Page 91 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Zur Wahrnehmung literarischer Fremdkanons   89

               ›Lite raturge schichte‹. Vielmehr wird dieser Kanon jetzt mit der Autorität, die
               schon damals mit dem Namen ›Goethe‹ ver bunden war, in die Öffentlichkeit
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               getragen  – und zwar als ein vermeint lich ›authenti scher‹ Fremd kanon, der ja,
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               so Goethe, »von dem Perser« generiert worden sei.  Bloß: Bis heute weiß auch
               die hochspezialisierte Orientalistik nicht, sei es in Europa oder im Iran, wo dieses
               ominöse Siebenerkonzept herrührt. Durch das Phänomen der literaturinternen
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               Kanonisie rung in Persien lässt es sich jedenfalls nicht erklä ren.  Wir haben es
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               hier vielmehr mit einem ›Invisible-hand‹-Phänomen zu tun.  Gerade drei hands
               können wir identifi zieren: Hammer, Bouterwek, Goethe. Doch aus wel cher
               ›Hand‹  hat ihn Hammer? Die Quellen, die er nennt, sind hierfür nicht ein-





                   und FA I 3.2, 1468). Goethe, der Hartmanns Übersetzung kannte, dürfte sich für den
                   Ausdruck  »Siebengestirn«  davon  inspiriert  haben  lassen  –  möglicherweise  auch  von
                                          ̣
                   der  Präsentation  Horaz’  und   Hāfiz   ̣’  als  »lyrische[m]  Zwillings gestirn«  in  Ham mers
                                 ̣
                   Vorrede zur seiner Hāfiz . -Übersetzung (vgl. Anm. 12). In jedem Fall verkreuzen sich hier
                   ›okzidentaler‹ und ›orientalischer‹ Gebrauch.
               69  Anders als zur Zeit der Weimarer Klassik hatte diese Autorität für das Werk des alten
                   Goethe  nicht  mehr  dieselbe  »oligarchische«  Durchsetzungskraft  (vgl.  dazu  Clemens
                   Ruthner, Am Rande. Kanon, Kulturökono mie und die Intertextualität des Marginalen am
                   Beispiel der (österreichi schen) Phan tastik im 20. Jahrhun dert, Tübingen, Basel 2004, 23).
               70  Hammers Geschichte der schönen Redekünste Persiens hat nicht nur hier kanonisierend gewirkt.
                   Goethe folgt Hammer u. a. darin, dass Firdausīs Šāhnāmeh eine Art Nationengründung
                   bewirkt habe (also ein ›klassi scher‹ Kanonisierungsvorgang) und dass nach Ğāmī, dann vor
                   allem ab dem 16. Jahrhundert die persische Literatur einem permanenten Verfall unterlegen
                   sei – dass laut Hammer dabei indischer Einfluss eine Rolle spielte (Hammer, Ge schichte
                   [wie Anm. 17], XIf.), dürfte Goethe aufgrund seiner Indien-Aversion zusätzlich motiviert
                   haben, dieser Déca dence-Theorie zu folgen. Heute wird ihr entschieden widersprochen
                   (vgl. Sahfī’ī Kadkanī, Per sian Literature (Belles-Lettres) From the Time of Jāmī to the Present
                   Day, in: Morrison, History [wie Anm. 15], 133-206, hier 138, 146, 150).
               71  Bei persischen Dichtern ist es Tradition, sich dezidiert auf die jeweiligen Vorgänger zu
                   beziehen, sofern man sie als ›Meister‹ ansieht. Mit der Zeit kann sich so ein literaturinterner
                   Dichter-Kanon ausbilden, der dann eine geradezu eherne, auratische Konsistenz da durch
                   erhält, dass die nachfolgenden Dichter in einem überaus un gewöhnlichen Ausmaß die als
                   ›Meister‹ aner kannten Dichter und deren Werke als unan tastbare Autorität, als Modell
                   und  Zitatenschatz  nutzten.  Dazu  kommt,  dass  es  keine  explizite  Literaturkritik  gab.
                   Vgl. dazu ebd., 138, und Rypka, Iranische Literaturgeschichte (wie Anm. 15), 91.
               72  Simone Winko, Literatur-Kanon als ›invisible hand‹-Phänomen, in: Arnold, Literarische
                   Kanonbildung  (wie  Anm.  6),  9-24,  hier  10-12.  Winko  bezieht  den  Begriff  der
                   ›unsichtbaren  Hand‹  vom  schottischen  Ökonomen  Adam  Smith  (1723–1790),  der
                   damit die der kapitalistischen, ›freien‹ Marktwirtschaft innewohnende Eigendyna mik
                   bezeichnete, die sich von identifizierbaren, konkreten Akteuren ablöst.
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