Page 95 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Zur Wahrnehmung literarischer Fremdkanons   93

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               this notion – who ever it was, he was ignorant or ill-infor med […].«  Whoever
               it was – überlassen wir die Suche nach der »unsichtbaren Hand« einer anderen
               Gelegenheit und kehren ein letztes Mal zum Divan zurück.
                   Denn direkt auf den Kanon des ›Siebengestirns‹ folgt in den ›Noten‹ eine
               Serie von Kapiteln, in de nen Goethe ein dialogisches Spiel entwickelt, über das er
               ästhetische Urteile und damit ver bundene ›Kanonisie rungen‹ relativieren kann.
               Näm lich indem er

                   1.   den »Charakter orientalischer Dichtkunst«  immer wieder an komplexe
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                      sozio-kultu relle und politische Kontexte rückbindet; 85
                   2.   Meinungen verschiedener Experten einan der gegenüberstellt; 86

                   3.   Vergleiche mit europäischer Dichtkunst unternimmt, um dem westlichen
                      Leser den Ein stieg zu erleichtern,  aber
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                   4.   solche Verglei che  auch  immer  wieder  in  Frage  stel t,  denn  jede
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                      »Dichtkunst« sei »mit sich selbst« zu vergleichen und »in ihrem eigenen
                      Kreise« zu »ehre[n]«; dem westlichen Leser ruft er deshalb zu: »Wollen
                      wir«, die Europäer, »an die sen Productionen der herrlichsten Geister
                      Theil nehmen, so müs sen wir uns orientalisieren, der Orient wird nicht
                      zu uns he rüber kommen.« 88

               Es wird deutlich, dass dem Leser hier die Flexibilität abverlangt wird, immer wieder
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               die Perspektive wechseln zu können und sich in »sceptischer Beweg lichkeit«  zu
               üben. Indem er diese immer wieder fordert, unterläuft Goethes Prosateil die
               Erwartung, eine eindeu tige, eben kanonisierende Orientie rung zu geben. Ja, am
               Ende stellt Goethe seinen Lesern die Quellen und Vermitt ler vor, die vielfältigen
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               ›Fil ter‹, die ihm sein »Heran kom men«  an den ›Orient‹ ermöglichten. Nur

               83  Ebd., 135f. Für diese Fehldeutung macht Kadkanī einmal mehr die «taẓkireh-writers«
                   verantwortlich.
               84  FA I 3.1, 181.
               85  Ebd., 154-157, 162, 165-167, 169f., 178-193, 195, 208.
               86  Ebd., 142, 158f., 189-191.
               87  Ebd., 202-204.
               88  Ebd., 200f.
               89  Ebd., 174.
               90  Vgl.  die  schon  im  Haupt-Schema  für  den  Prosateil  an  dieser  Stelle  vorgesehenen
                   »Bekenntnisse des Heran kommens pp.« (Bl. 133-134, in: Bosse, Meine Schatzkammer
                   [wie Anm. 7], 933-946).
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