Page 96 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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94 Anke Bosse
aus Platzgründen muss sich der vorliegende Artikel auf Hammer be schrän-
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Dass Goethe auch im Prosateil des Divans eine dialogische, den Leser
fordernde Komposi tion vorlegt, kann man als Versuch werten, besagtem
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Diskursmachtge fälle zu entkom men. Dieses hat der wohl wirkungsmäch tigste
Kritiker des Orientalis mus, Edward Said, so beschrie ben: Der Westen benenne
im Kontrast zu sich, was das ›Andere‹, der ›Orient‹ sei, und defi niere diesen
zuallererst. Dieser westliche, im europäischen Kolonialismus wurzelnde Diskurs
pro duziere eine pseudo-evidente dichotomische Unter scheidung zwischen ›dem
Ori ent‹ und ›dem Okzi dent‹. Die ser Diskurs sei, indem er den realen Orient
undurch dringlich über schreibe, ein in sich geschlossenes Machtsystem. In dem
Maße, wie dieses sich im wissen schaftlichen Orientalismus Europas institutio-
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nali siere, verabsolutiere es sich.
Wollte Hammer diesem wissenschaftli chen, mit Macht verbunde nen
Orientalis mus angehören, grenzte sich Goethe dagegen ab. Said hat seither,
mehrfach kritisiert, seine Positio nen rejustiert. Mir liegt daran, seine Kri tik an
der diskursiven Orient-Okzident-Dichotomie als berechtigt herauszustellen. Nur:
Saids eigene Argumentation perpetuiert diese fatale Di chotomie. Denn seine
Vorstellung eines realen Ori ents jenseits des Diskurses ist ein phantas mati sches
Konstrukt. ›Den‹ Orient gibt es so we nig wie ›den‹ Okzident. In einer globalisier-
ten Welt wäre es dringend von nöten, sich klar zu machen: Der vielzi tierte ›clash
91 Doch Hammer war nur einer neben Heinrich Friedrich von Diez, Johann Gottfried
Ludwig Kosegarten, Ge org Wilhelm Lorsbach und Heinrich Eberhard Gottlob Paulus.
Dass diese in ihren Urteilen nicht immer über einstimmten, zwischen Hammer und Diez
sogar ein öffentlicher Streit entbrannte, hat Goethe genug Anlass geboten, sich in der
Relativität von Darstellungen und Urteilen zur orientali schen Lite ratur zu üben. Zum
Hammer-Diez-Streit vgl. Katharina Mommsen, Goethe und Diez, Berlin 1961, 1-44.
92 Mehr noch: Goethe setzt sich explizit mit seinem ›imaginativem Orienta lis mus‹ ausein-
ander, mit seiner im mer schon vermittelten und gefilterten Imagination und Pro duk tion.
Vgl. Bosse, Interkulturelle Ba lance (wie Anm. 59). – Vgl. zu Struktur und Komposition
des Prosateils: Bosse, Noten (wie Anm. 61), 324f.
93 Edward W. Said, Orientalism, New York 1979. Auf diese Weise stand bei ihr »das Streben
nach forschender Erkenntnis« im Mittel punkt, was »lang fristig ih ren besonderen Ruf
und ihre einzigartige Leistungsfähigkeit sichern« sollte (Man gold, Eine »welt bürgerliche
Wissenschaft« [wie Anm. 9], 68, 76f.).