Page 93 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Zur Wahrnehmung literarischer Fremdkanons 91
sprachliche Transfor ma tion vornehmen, und schließlich bei Goethe, der sich aus
die sen mehrfach fil ternden, transformie ren den und kanonisierenden Quellen
be dient. Mal greift er eupho risch-spontan zu für seine poeti sche Inspiration,
mal gibt er durch erklä rende Darstellung diese Ka nonisierun gen weiter – und
verstärkt sie mit der Autorität seines Namens. Das Ganze ver kompliziert sich
wiederum durch das Diskursmachtgefälle zwischen Orient und Okzident, auf
das ich noch eingehen werde. Indem sich schließlich ein Kanon in einer sich
wan delnden Welt mit einiger Stabilität behauptet, provo ziert er durch die Rei-
bung zwischen Wandel und Dauer eine Selbst destruktions- und Erneuerungsdy-
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namik. Ja, je obstinater ein Kanon sich setzt und je mächti ger seine Agen ten
sind, desto heftiger können die Gegen be wegungen sein. Ham mer z.B. hat äu ßerst
ge schickt in der entstehenden Orientalis tik seine ›claims‹ abge steckt, war also ein
identifizierba rer und exponierter Agent. Prompt setzt noch im 19. Jahrhundert
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eine vehe mente Hammer-Kritik ein. So erklärt Meyers Konversations-Lexikon
von 1888, Hammers Ge schichte der schönen Redekünste Per siens sei »lei der eine
sehr ungenügende Ar beit«. Noch in Ryp kas Irani scher Literaturgeschichte von
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76 Diese Dynamik nimmt gerade seit dem 19. Jahrhundert vor allem durch das Prinzip der
Innovation an Fahrt auf. Denn sie lässt sich als »Triebkraft der modernen Literaturgeschichte
[…] ideengeschichtlich unschwer mit der In dust rialisierung […] und dem […]
aufkommenden Kapitalismus parallelisieren« (Ruthner, Am Rande [wie Anm. 69], 39,
vgl. ebd. auch 34-43), was es meines Erachtens um so sinnvoller erscheinen lässt, Winkos
an einem ökono mischen Modell gewonnenes Invisible-hand-Phänomen anzuwen den.
77 Die dekanonisierende Entmachtung Hammers hat direkt mit der Etablierung der
Orientalistik als akademi scher Disziplin zu tun. Hammer, der genau besehen immer
Amateur blieb, hatte sich dennoch als »Galionsfi gur der deutschen Orientalistik« und als
»Oberhaupt der europäischen« etabliert (Mangold, Eine »weltbür gerliche Wis senschaft«
[wie Anm. 9], 80-88).
78 (Artikel) Persische Litteratur (Poesie, Geschichtsschreibung), in: Meyers Konversations-Lexikon,
16 Bde., Leipzig 1888; s. auch unter http://www.meyers-konversationslexikon.de. Dieses
abschätzige Urteil verstärkt auch noch seine auto ritative Macht, indem es sich direkt
danach auf den ›Oligarchen‹ im Feld deutscher Kultur beruft: Goethe. Es folgt der Satz
»Vgl. auch Goethe in den Noten zum ›Westöstlichen Diwan‹«. Pikant daran ist, dass
Goethes dortige Kritik immens ver halten ist und lediglich auf den tatsächlich unglückli-
chen Terminus »Re dekünste« abzielte, sonst aber den herausra genden Einfluss auf seinen
Divan gerade explizit herausstellt – eine öffentliche, nobilitierende Kanoni sierung von
Hammers Literaturgeschichte (FA I 3.1, 204f., 278f.). – Doch die Demontage Hammers
ist in diesem Lexikon am Ende des 19. Jahrhunderts noch systematischer: Im Artikel
über »Dauletschâh« heißt es, dessen Anthologie sei auch »von Hammer […] für seine
›Geschichte der schö nen Redekünste Persiens‹ (Wien 1818) exzerpiert« worden, »nur leider
mit wenig Geschmack und nicht feh lerfrei.« Und im Artikel Hafis wird vermerkt: »Eine