Page 90 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                 erschie nene Geschichte der schö nen Redekünste Per siens.  Ziel- und Höhepunkt
                 sind sieben Kapi tel, in denen Goethe je einen der »sieben Dichter« porträtiert,
                 welche »von dem Perser für die ersten gehalten werden, und innerhalb eines
                                                                       63
                 Zeitraums von fünfhundert Jahren nach und nach er schie nen«:  Firdausī,
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                 Anwarī, Niz .āmī, Rūmī, Sa‹ dī, Ḥāfiz . und Ğāmī.  Goethe übernimmt hier exakt
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                 Hammers Kanon der »größten persischen Dich ter«, wie er ihm schon in Bou-
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                 terweks An zeige unterge kom men war.  Ja, er nobilitiert Ham mers Bezeichnung
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                 »Heptaklinion«  (Siebener-Sofa) zu »Siebenge stirn«  gemäß dem Stern bild
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                 der Plejaden, das als Kanonbezeichnung ewige Strahlkraft und Dauer bean-
                 sprucht.  Ham mers Siebenerkanon wirkte also nicht nur auf Goethes private
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                 62  FA  I  3.1,  279.  Goethe  setzte  alles  daran,  so  schnell  wie  möglich  an  dieses Werk  zu
                    gelangen; vgl. Bosse, Meine Schatzkammer (wie Anm. 7), 822f.
                 63  FA I 3.1, 216.
                 64  Ebd.,  168-176.  Es  folgt  dann  noch  zu  allen  sieben  das  Kapitel Übersicht,  ebd.,  176-
                    178. – Dagegen ist ’Attār endgültig dekanonisiert. Er wird nur noch kurz im Rūmī-
                    Kapitel erwähnt (ebd., 171), während er noch im Mai 1815 auf dem Widmungsblatt
                    figuriert, das Goethe seinem damaligen Titelblatt folgen lassen wollte und das wohl ein
                    Gegengewicht zu dem star ken Hafis-Bezug des Titelblatts bilden sollte (Bosse, Meine
                    Schatz kammer [wie Anm. 7], 517-523; vgl. Abb. 9 in FA I 3.1).
                 65  Hammers  kanonisierende  Periodisierung  allerdings  tritt  stark  in  den  Hintergrund.
                    Goethe orientiert sich zwar weiter an Hammers Chronologie, lässt aber seine strikte
                    Zeitraumeinteilung  und  vor  allem  die  ›Repräsenta tivität‹  der  sieben  Dichter  für
                    bestimmte Zeiträume weg.
                 66  »Firdussi  im historischen Epos, Nisami  im romantischen Gedichte, Enweri als panegyrischer,
                    Dschelaleddin [Rumi] als mystischer, Saadi als moralischer, und Hafis als erotischer Dichter.
                    Später stand zwar noch Dschami auf, der […] wenn auch in keiner Gattung der erste,
                    doch als überall der zweyte, den größten persi schen Dichtern beygezählt, mit ihnen am
                    Heptaklinion des poetischen Himmelsgelages am Nektar der Un sterblichkeit trinkt. Hafis
                    steht also im Sonnenwendepuncte der persischen Poesie, umstrahlt von allen gro ßen und
                    kleinen lyrischen Lichtern, […].« (Hammer, Geschichte [wie Anm. 17], 11) Möglicherweise
                    hat astronomische und Paradies-Metaphorik im Kontext des »Heptaklinions« Goethes
                    Entscheidung für das »Sieben gestirn« beeinflusst.
                 67  FA I 3.1, 175.
                 68  Die  Bezeichnung  Plejaden,  in  der  griechischen  Mythologie  die  sieben  Töchter  des
                    Atlas  und  der  Okeanide  Pleione,  wurde  auf  eine  Konstellation  von  sieben  Sternen
                    übertragen  (›Siebengestirn‹),  dann  auf  die  sieben  alexandrinischen  Dichter,  und
                    schließlich von sieben französischen Dichtern des 16. Jahrhunderts für sich beansprucht
                    (die  sogenannte  »Pléjade«).  Außerdem  übernahm  Anton  Theodor  Hartmann  diese
                    Metapher als Bezeichnung für die von ihm übersetzten und von Goethe so bewunderten
                    Mu’allaqāt (Die hellstrahlenden Plejaden am arabischen poetischen Himmel, oder die sieben
                    am Tempel zu Mekka aufgehangenen arabischen Gedichte, Münster 1802; vgl. Anm. 7
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