Page 86 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                 Gewinnst des Le bens«.  Er hat den Quellenwortlaut also beim Übersetzen von
                 einem Ausruf in eine Aussage umgeformt und auf die ihm wichtigsten Elemente
                 komprimiert, vor allem auf die nun explizit »poetisch« genann ten »Per len« (Ver-
                 fahren Nr. 5 und 6). 50
                    Vergleicht man nun das Exzerpt und das daraus entwickelte Divan-Ge dicht,
                 so kommt nicht nur das 4. Verfahren, die Versifikation, zum Zug, sondern auch
                 als neues Element die ›Leidenschaft‹ hinzu:

                    Die Flut der Leidenschaft sie stürmt vergebens
                    An’s unbezwungne, feste Land. –
                    Sie wirft poetische Perlen an den Strand,
                    Und das ist schon Gewinn des Lebens. 51

                 Goethe verbindet die »poetischen Perlen« mit der Flut als eines Sinn bilds der
                 vergeblichen Lei den schaft. Dazu hat ihn der Kontext von Daulat-Šāhs Ausruf
                 angeregt. Dieser berich tet, wie der Mys tiker ’Attār am Ende seines Lebens zum
                 höchsten Verzicht, zur Bezwingung seiner Leidenschaften gelangt sei. Goe the löst
                 dies aus dem mysti schen Kontext, spitzt »Leidenschaften« auf die in seinem Divan
                                        52
                 relevante Liebes leidenschaft zu  und ersetzt ’Attārs Ver zicht durch – Sublimation.
                 In Anleh nung an das Verfahren Nr. 2 und gemäß den Divan-Motiven ›Liebe‹ und
                 ›Dichtung‹ wird »vergebliche« Liebeslei denschaft sublimiert in »poetische Perlen«.
                 Poesie ist »Ge winn des Le bens«, insofern in ihr die Lei denschaft ›aufgehoben‹ ist –
                 suspendiert und zugleich konserviert. Hier kreuzt sich über das 7. Verfah ren
                 der bereits antike Topos ein, dass ohne ›Lei den schaft‹, ohne Furor, überhaupt
                 kein Dichter denk bar und dass es speziell die vergeb liche Leidenschaft sei, die ihn
                 produktiv ma che. Ein Topos, der seine Filiationen sowohl in den euro päi schen
                 wie auch in den orientalischen Litera turtraditionen hat, in sich also Westliches
                 und Östliches ver webt.
                                   53


                 49  H 55/Bl. 65 in Bosse, Meine Schatzkammer (wie Anm. 7), 182f. u. 1081 (Abb. 6).
                 50  »Poetische Perlen« kannte Goethe bereits aus Ḥāfiz .’  Diwan als orientali sche Meta pher
                    für formvollendete Verse. Bei Daulat-Šāh fand er diese poetologische Metapher noch
                    er weitert um die ori entali sche Mythe über die Entstehung der Perle aus dem Meer.
                 51  FA I 3.1, 67.
                 52  Vgl. zu diesem Komplex Momme Mommsen, Studien zum West-östlichen Divan, Berlin
                    1962, 15-17.
                 53  Vgl. ebd. (wie Anm. 52), 9-11. Vgl. den Orpheus-Mythos und zur Filiation im Orient
                    Johann Christoph Bürgel, Verstand und Liebe bei Hafis, in: J. C. B., Drei Hafis-Studien,
                    Bern; Frankfurt am Main 1975, 43-54.
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