Page 87 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Zur Wahrnehmung literarischer Fremdkanons 85
Leider muss ich es bei diesen zwei Beispielen belassen. Ich denke aber, sie
zeigen:
1. Goethes Orientrezeption führt weder zu einseitigen ›Übertragungen‹
eines Östlichen ins Westli che noch zu blo ßen Nachahmungen, sondern
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zu komplexen poetischen Prozessen, die di alogisch, inter textuell und
interkulturell sind.
2. Deshalb ist eine potenzierte Transformation durch die Übersetzung
einer Übersetzung, z.B. Per sisch-Fran zösisch-Deutsch wie in Die Flut
der Leidenschaft …, kreativ – und poeti sche Lizenz.
3. Dementsprechend ist die Wahl der Quelle spontan, ihre Anverwandlung
folgt den internen Geset zen der poeti schen Inspiration, Imagination und
Produktion, so auch dem Kontext des eigenen Divans.
4. Deswegen können auch Missverständnisse produktiv sein.
5. Aus diesen Gründen kommt – vor allem – bei den Divan-Gedichten
eine normative Blickveren gung durch Kanonisierung nicht zum Zuge;
dass z. B. ’Attār aus Ham mers/Bouterweks Fremdkanon der sieben
persischen Dichter entschwindet, spielt keinerlei Rolle; und als versierter
Fußnotenleser suchte Goethe gerade in den Marginalien nach inspirie-
renden Kon kreta – ein ausgesprochen kanonsubversives Verhalten. 55
6. Es wird deutlich: Goethes West-östlicher Divan ist ein Programm und ein
Prozess. Goethe legt es an auf Mischungen, die zwischen Westlichem
und Östlichem oszillieren, zwischen eigener Erfahrung, Beobachtung,
Poesie und Angelesenem über den Orient. Dieser tritt bei ihm also
gerade nicht als ›der Orient‹ auf, sondern gehört zu einem vielstimmigen
Resonanzraum, in dem Stimmen mitklingen wie die der antiken
und biblischen Tra ditionen oder die seiner eige nen anakreontischen
Jugendlyrik. Leider kann ich im vorliegenden Beitrag nur wenige
Stimmen exemplarisch nennen. Diese komplexen Mischungsver hältnisse
erklären, weswegen die Markierung von einzelnen Textelementen
54 Deshalb ergibt sich das Dilemma einer Übersetzerentscheidung zwischen Inhalt und
Form wie bei Hammer genauso wenig wie die Frage nach Adäquatheit (vgl. Anm. 40).
55 Ganz zu schweigen von Goethes Hang zur kursorischen Lektüre. Seine »Lektürewege«
waren, zusammen mit »inspirativen Erlebnissen«, natürlich noch vielfältiger, als es hier
dargestellt werden kann. Vgl. daher Bosse, Meine Schatzkammer (wie Anm. 7), 1072-
1077.