Page 92 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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90 Anke Bosse
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deutig auszumachen. Die Vermutung einer Vermittlung über das Osmanische
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Reich ist insofern plausi bel, als Ham mer seine Ausbil dung in Persisch, Ara-
bisch und Türkisch an der Wiener Orientali schen Akademie ab sol viert hat, die
Diploma ten zur Pflege der Bezie hungen zum Osma ni schen Reich aus bildete,
und er sich über die ses auch seine Quel len beschaffte. 75
Ich gehe auf dieses Phänomen ein, um Folgendes zu verdeut lichen: Ka nons
treten mit dem wir k mächti gen Versprechen an, in einer sich ständig wandeln-
den Welt ori entierende, dauerhafte Stabilität zu bie ten. Indes: Sie sind zwar
orientierend und wir kungs mächtig, aber nicht dauerhaft stabil. Sie sind viel-
mehr das vorübergehende Ergebnis eines äußerst komplexen Pro zesses, den viele,
nicht immer zwingend identifizierbare Agenten voran trei ben und der sol cherart
eine nicht mehr kontrollier bare Eigendynamik entwickeln kann. So entsteht das
erwähnte Phänomen der ›unsichtbaren Hand‹. Bei ›Fremdkanons‹ und ihrem
inter kulturel len Transfer ist das Auftreten eines solchen Phäno mens noch eviden-
ter. Denn es liegen meh rere Wahrnehmungs- und Selektionsfilter vor, so bei den
kanonisierenden Selbstdarstellun gen der Aus gangskultur (z. B. die taẓkirehs),
bei inter kultu rellen Vermitt lern wie in unse rem Fall Ham mer, bei weite ren (von
Hammer übrigens unre flek tierten) Zwi schenfil tern wie der osma nischen Kul tur,
bei den di versen Übersetzungen, die auf Selek tion beruhen und tiefgreifende
73 Darunter ist wieder einmal die taẓkireh des Daulat-Šāh. Hammer nennt außerdem Ğāmīs
Bahāristan, das aber für den Siebenerkanon ebenfalls nicht verantwortlich ist (Geschichte
[wie Anm. 17], VIIf.). Denn in taẓkirehs und ihnen verwandten Textsorten war es nicht
üblich, maximal selektiv und kanonisierend einige we nige Dichter an die Spitze zu stel-
len – im Gegensatz zur europäischen Tradition (vgl. Anm. 64, 66, 74). An sonsten scheint
sich Hammers Li teraturge schichte durchaus an der Struk tur der taẓkirehs zu orientieren:
Abgese hen von je einen Zeitraum einleitenden Kapiteln, Hammers Spezialität, bie tet er
nämlich Dichterbio grafien und, ähnlich ei ner Anthologie, Werkauszüge (laut Titel »mit
einer Blüthenlese aus zweyhundert persischen Dich tern«).
74 So die Vermutung des Islamwissenschaftlers Johann Christoph Bürgel (vgl. auch
Birus – allerdings ohne weiterfüh rende Angaben: »Der persischen Literatur allerdings
scheint eine sol che enge Auswahl ganz fremd zu sein; nicht so dagegen ihrer türkischen
Rezeption, und auf ihr vor allem fußt die Kanonisierung Ham mers.« [FA I 3.2, 1467]).
Bürgel verweist außerdem auf die heptadischen Periodisierungen, die bis ins antike
Judentum zurückreichen (vgl. die siebenphasige ›Genesis‹).
75 Vgl. Hammer, Geschichte (wie Anm. 17), VII. Vermutlich hat eine weitere seiner
Quellen, die taz . kireh des Safawiden Sam Mirza, eine Rolle gespielt. Die Familienspra-
che der persischen Dynastie der Safawiden war Tür kisch, und in ihrer Regie rungszeit
(1500–1736) gab es offensicht liche Rück strahlungen aus der os man-türki schen Literatur
auf die persische (Rypka, Iranische Literaturgeschichte [wie Anm. 15], 280-284).