Page 84 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                    Sey das Wort die Braut genannt,
                    Bräutigam der Geist;
                    Diese Hochzeit hat gekannt
                    Wer Hafisen preist. 41
                 Hammers reimlose Verse konvertierte Goethe – Verfahren Nr. 4 – in vier-
                 und dreihebig trochäi sche Verse mit Kreuz reim. Dass man die »Lo cken« der
                 »Wortbraut« »kräuseln« könne, ging ihm als Bild wohl nicht ein – tatsächlich ist
                 die Meta pher »Wortbraut« eine missverständliche Neubildung Ham mers (statt
                 kor rekt »Bräute des Wortes« ). Doch Missverständnisse können produktiv sein.
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                 So ent zerrt Goethe die irritierende Meta pher »Wort braut«, indem er sie in einen
                 auffordernden Benen nungsakt überführt: »Sey das Wort die Braut ge nannt«. Ihm
                 folgt ein zweiter Benen nungsakt: »Bräuti gam der Geist«. Denn anders als die
                 korrekten »Bräute des Wortes« provozierte die einzelne »Wort braut« bei Goethe
                 die Frage nach dem Bräutigam. Das bot ihm – Ver fahren Nr.  7 – die Möglich keit,
                 eine zweite Quelle einzu kreuzen, nämlich das neutestament liche Paar »der Geist
                             43
                 und die Braut«.  Die autopo ietische Ausgangsidee bei Ḥāfiz ., unaus sprechliche






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                    Diwan [wie Anm. 8], VI). Deshalb opfert er dem Inhalt die Form: Hāfiz . ’ Lang vers-Paare
                    bricht er – übri gens immer – in vier kurze. Und er räumt bedauernd ein, dass in seiner
                    Überset zung die Ghasel-Form (die Reimform aa – ba – ca – ea …), also der »gleiche Anklang
                    des Reimes, welcher ori en talischem Gehöre eine unerläßliche Schönheit dünkt, gänzlich
                    verloren« geht (ebd.). Hammer legt also, so scheint es, gewissen haft offen, wie weit er in
                    seiner Übersetzung ›verfremdet‹. Gerade im Fall der Form gaukelt er allerdings Kom petenz
                    vor, indem er vor einige Ghasele ein metrisches Schema setzt – Goethe hat aber schnell
                    erkannt, dass dies lediglich das Metrum von Hammers eigener deut scher Überset zung ist
                    (vgl. FA I 3.2, 1008–1010). Im Laufe der durchaus auch aggressiven Demontage Hammers
                    im 19. Jahrhundert (vgl. Anm. 77-79) ging die kanonische Bedeutung seiner Diwan-
                    Übersetzung auf die Rosenzweig-Schwannaus über (Der Diwan des grossen lyrischen Dichters
                    Hafis im persischen Original, hg., ins Deutsche metrisch übersetzt und mit Anm. versehen
                    von Vincenz Ritter von Rosenzweig-Schwannau, 3 Bde., Wien 1858-1864). Vgl. desgleichen
                    die erste franzö sische Gesamtübersetzung von Arthur Guy, der Hammers Übersetzung als
                    Pioniertat aner kennt, aller dings bemerkt, sie gehöre zu den »belles infidèles« (Arthur Guy,
                    Les poèmes érotiques ou ghazels de Chems Ed Dîn Mohammed Hâfiz en calque rythmique et
                    avec rime à la persane, accompagnés d’une intro duction et de notes d’après le commentaire de
                    Soudî, Paris 1927 [Les Joyaux de l’Orient; 2], VIII, XXXVI).
                 41  Abb. 8 in FA I 3.1 sowie Abb. auf Bd. 1 von Bosse, Meine Schatzkammer (wie Anm. 7).
                 42  Vgl. FA I 3.2, 978.
                 43  Offenbarung 22, 17.
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