Page 82 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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80 Anke Bosse
der überaus lo bend Joseph von Ham mers neuestes, noch ungedrucktes Werk
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vorstellte, und zwar dessen Geschichte der schönen Re dekünste Persiens. Hammer
exakt folgend, teilte Bouterwek die persische Literaturge schichte in Zeiträume
ein und ordnete ihnen genau jene Dichter zu, die Goethe seit Wochen beschäf-
tigten – nur ’Attār entfiel:
Erster Zeitraum. Die Persische Poesie in ursprünglicher Reinheit. Die epische Zeit. In
ihr glänzt vor den meisten Dichtern Firdußi, […]. – Zweyter Zeitraum. […] Lyrische
Panegyriker und romantische Dichter […]. Der größte dieser Dichter in der panegyri-
schen Lyrik ist Eohadeddin Enwari. […] Auch Nisami ge hört in diese Reihe. […] Leila
und Metschun gehört hierher. – Dritter Zeitraum. Mystische und moralische Poesie. […]
Hierher besonders die Dichter Dschaladdin Rumi und Saadi. Vierter Zeitraum. Die
Persischen Minnesänger. Höchster Flor Persischer Poesie […]. Hierher Hafis. Fünfter
Zeitraum. Stillstand der Persi schen Poesie, begränzt durch den letzten Dichter erster
Größe, Dschami. 36
Wir haben es hier mit ei nem von außen erstellten, doppelt wirk samen ›Fremdka-
non‹ zu tun. Dieser kano nisiert nämlich erstens eine dezi dierte Epocheneinteilung
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und, zweitens, sieben Dichter als jeweils repräsentativ für eine Epo che. Minutiös
übertrug Goethe diese Angaben auf seine Studienblätter. Er stellte sie so zu
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seine renommierte Reihe aufnehmen – und Hammers Titel mit den Stichworten ›Ge-
schichte‹ und ›Rede künste‹ drückt diese Hoffnung deutlich aus. Doch da Bouterwek
sich auf euro päische Literatur beschränkte, kam Hammer nicht zum Zuge. Bouterwek
revanchierte sich mit der lobenden Anzeige, in der er mehrfach da für warb, Hammers
Werk möge nur recht bald einen Verleger finden (ebd., 1481f., 1485).
35 Um ihre Aufbewahrung zu sichern, ließ Goethe die Anzeige Anfang März 1815 sogar von
seinem Schrei ber John abschreiben. Vgl. Bosse, Meine Schatzkammer (wie Anm. 7), 175,
395-400.
36 Bouterwek, Anzeige (wie Anm. 34), Sp. 1483f.
37 Auch Hammers Urteil, ab dem »sechsten« und »siebenten Zeitraum« sei ein »Sinken der
Poesie« und ein »Verfall der Dichtkunst« festzustellen, also keine ›kanonwürdigen‹ Dichter
mehr zu nen nen, übermittelt Bouterwek in der Anzeige (ebd., Sp. 1484). – Diese enge
Koppelung zwischen Literaturepoche und einem oder zwei Dichternamen mag als extrem
verengende Orientierungsstrategie fragwürdig sein. In des sei darauf hingewiesen, dass
gerade die Germanistik mit dem Label ›Goethezeit‹ nicht nur einen Zeitraum Goethe
zu ordnet, sondern, noch extremer kanonisierend, eponymisch nach ihm benennt.
38 Mit roter Tinte trug Goethe auf das Studienblatt zu Firdausī »Erster Zeitraum / Epische
Zeit. / Ferdousi« (Bl. 28) ein, zu Anwarī »Eshadeddin / Zweyter Zeitraum. / Panegyrische
Lyrik.« (Bl. 70), zu Rūmī »III Zeitraum« (Bl. 33), zu Sa’dī »III Zeitraum / Mystische und
/ moralische Poesie« (Bl. 73/H 108) und zu Ğāmī »Fünfter Zeitraum« (Bl. 35). Zu dem