Page 83 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
P. 83
Zur Wahrnehmung literarischer Fremdkanons 81
ei ner Art der privaten Literaturge schichte, zu seinem persönlichen Kanon der
persi schen Haupt dich ter zusammen – nun in der chronologischen Reihenfolge
Firdausī, Anwarī, Niz .āmī, Rūmī, Sa’dī, Ḥāfiz ., Ğāmī.
Wir sollten hier einhalten und uns fragen: Inwiefern war Goethes
Orientrezeption denn konkret produktiv bei den einzelnen Divan-Gedichten?
Acht intertex tuelle, Eigenes wie Fremdes interkul turell ver kreuzende Verfahren
habe ich im Laufe meiner Arbeit zur Entstehungsgeschichte des Divans identifi-
39
zieren können:
1. die wörtliche Übernahme des Quellenwortlauts;
2. das wörtliche Zitat, das in Eigenpoetisches eingebettet wird;
3. leichte Retuschen (z. B. Verknappung, Ersatz einzelner Wörter,
Inversion etc.);
4. Versifikation (plus evtl. Metrisierung und Reime);
5. Abwandlung schon bei der Übersetzung aus der (meist
fremdsprachigen) Quelle;
6. Komprimierung des Quellenwortlauts in Stichpunkte, die dann als
›Gedichtkeime‹ dienen;
7. Ineinanderblendung mehrerer Quellen und
8. lediglich vager Quellenbezug.
Da Goethe meist mehrere Verfahren kombinierte, entstanden komplexe
Mischungen. An nur zwei Gedichten von im merhin 241 werde ich dies kurz
veranschaulichen.
Prominent auf das Titelblatt seiner Übersetzung platzierte Hammer die
̣
letzten Verse eines Hāfiz .-Ghasels: »Keiner hat noch Gedanken, / Wie Hafis,
entschleiert, / Seit die Locken der Wort braut / Sind gekräuselt worden.« Sie
40
ani mier ten Goethe, sich ›productiv‹ dagegen zu verhalten:
̣
ihm längst bekannten Hāfiz . legte er der Systematik halber ein neues Studienblatt in roter
Tinte an mit der Aufschrift »IV Zeitraum. / Minnesänger. / Hafis.« (Bl. 34), desgleichen
für Niẓāmī, der ihm erst Anfang März 1815 in den Blick geriet: »Zweyter Zeitraum /
Nisami / Bearbeiter des Stoffes von Medschnun u[nd] Leila.« (Bl. 72). Dazu Bosse, Meine
Schatzkammer (wie Anm. 7), 267, 288, 293, 307, 358, 403, 405 und 1082 (Abb. 7).
39 Ebd., 1104f.
40 Vgl. Abb. Nr. 1 in FA I 3.1. Schon hier wird das Dilemma einer Übersetzung persischer
Poesie ins Deutsche evident: Inhalt und Form sind nicht beide zu haben. In seiner Vorrede
verpflichtet Hammer sich auf »mög lichste Treue in Wendung und Bild« (Hammer, Der