Page 81 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
P. 81
Zur Wahrnehmung literarischer Fremdkanons 79
27
aus über 50.000 Doppel versen gefasst. Begierig, Näheres über dieses – wie Goe-
28
the erkannte – »wichtige, ernste, mythisch-histori sche Natio nal-Fundament«
zu erfahren, begann er mit intensiven, monatelangen Studien zur orientali schen
Litera tur und Kultur. Gegenüber dem Freund Knebel bekannte er:
So habe ich mich die Zeit her meist im Orient aufgehalten, […]. Es ist wun derlich
zu sehen, wie die ver schiedenen Nationen: Franzosen, Engländer, Deutsche, wie die
verschiedenen Stände: Theolo gen, Ärzte, Moralisten, Ge schichtsschreiber und Dichter
den ungeheuren Stoff, jeder nach seiner Art, be handelt, und so muß man es denn auch
machen, wenn man ihm etwas abgewinnen will, und sollte man dabey auch die Rolle des
Kindes spielen, das mit einer Muschel den Ocean in sein Grübchen schöpfen will. 29
Fleißig »schöpfte« Goethe, exzerpierte, notierte, kombinierte, dichtete. Dabei
erschloss er sich die orientalische Literatur durch Übersetzungen und durch
orientalistische Werke in Deutsch, Latein, Englisch und Französisch, durch An-
30
thologien, Reiseberichte, Lexika, wissenschaftliche Artikel. Zwar rück ten jetzt
auch arabische Dichter in sein Blickfeld, doch blie ben vor allem »die persischen
31
[…] an der Tagesord nung«: Zu Ḥāfiz ., Rūmī, Ğāmī und Firdausī traten Sa’dī,
32
Anwarī und später Niz .āmī. Für diese Dichter legte er sogar Studienblät ter an, auf
denen er die aus verschiedensten Quel len gezogenen Informatio nen syste ma tisch
zusammentrug. Doch sein Bedürfnis nach Orientie rung in diesem ›Ozean‹ wuchs.
33
34
Auf merksam las er daher Anfang März 1815 eine Anzeige Fried rich Bouter weks,
27 Das Šāhnāmeh ist nicht das allererste Epos, es hat Vorgänger, die aber nicht im
geringsten so wirkungsmäch tig waren und die weitgehend im Šāhnāmeh absorbiert
sind. Vgl. Rypka, Iranische Litera turgeschichte (wie Anm. 15), 149-155; Morrison, History
(wie Anm. 15), 15-22.
28 FA I 3.1, 168.
29 Brief an Carl Ludwig von Knebel vom 11. Januar 1815 (WA IV 25, 143f.).
30 Vgl. Bosse, Meine Schatzkammer (wie Anm. 7), 167-588.
31 Vor allem Ibn ’Arabšāh, al-Ḥarīrī, al-Mutanabbī und al-Buḥturī sowie der türkische ’Alī
Čelebi.
32 Brief an Sulpiz Boisserée vom 2. Januar 1815 (WA IV 25, 130).
̣
33 Nur für Hāfiz . ̣, der ihm schon bestens bekannt war, und für Niz . āmī, der erst verspätet
hinzutrat, liegen keine Studienblätter vor. Des Systems wegen aber legte er auch Blätter
für diese beiden an, als er die Zeitrauman gaben nach Bouterwek übertrug. Vgl. im
Folgenden Anm. 34 und Bosse, Meine Schatzkammer (wie Anm. 7), 403-405.
34 Göttingische gelehrte Anzeigen, 149. Stück, 17. September 1814, 1481-1485. – Bouterwek
war Herausge ber der einflussreichen Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem
Ende des dreizehnten Jahrhunderts (12 Bde., Göttingen 1801–1819, Reprint: Hildesheim;
New York 1985). Joseph von Hammer hatte ihm das Manu skript seiner Geschichte
der schönen Redekünste Persiens zugesandt in der Hoffnung, Bouterwek werde sie in