Page 80 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                 man ihm, wie er es nannte, eine »Kamels-Last von Blättern und Bänden«  ori-
                 entali scher Litera tur für die Weimarer Hofbibliothek. Den Jenaer Professor für
                                                                    22
                 Orientalistik, Georg Wil helm Lorsbach, bat er um Begutachtung  – und erfuhr
                                                         ̣
                 nun, nach der folgenrei chen Entde ckung des Hāfiz ., dass darunter die »sehr
                 hochgeschätzte poetische Samm lung des persi schen Dichters Hafyz« sei sowie


                 »Rumis […] Mesnewi«, das »von den Suffis […] für das vor treffichste Buch
                 nach dem Koran gehal ten« werde, als auch Werke von »Dschami«, »Attar« und
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                 »Sadi«.  Goethe er kannte:
                    […] man muß dergleichen Handschriften wenigstens sehen, wenn man sie auch nicht
                    lesen kann, um sich ei nen Begriff von der orientalischen Poesie und Literatur zu machen.
                    Die unendliche Verehrung gegen ihre Dichter, Weltweisen und Gottesgelehrten, sowie
                    die größte Geduld und Sorgfalt drücken sich in diesen Hand schriften aus. 24

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                 Noch im Dezember 1814 stieß Goethe auf das persische Šāh nāmeh,  das »Buch
                 der Könige« aus dem 10./11. Jahrhundert. Sein Autor Firdausī ist bis heute kano-
                 nisiert als Begrün der der neupersischen Lite ratur.  Denn die mythischen Überlie-
                                                      26
                 ferungen zur Geschichte Persiens vor seiner Islamisierung hat Firdausī in ein Epos






                 21  Brief an Johann Heinrich Meyer vom 7. März 1814 (Johann Wolfgang von Goethe,
                    Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großher zogin Sophie von Sachsen, 4 Abteilungen,
                    133 Bde., Weimar 1887–1919, Reprint: Mün chen 1987, hier IV. Abt., Bd. 24, 187. Die
                    Weimarer Goethe-Ausgabe wird zukünftig unter der Sigle WA zi tiert).
                 22  Vgl.  West-östlicher  Divan,  3  Bde.,  hg.  v.  Ernst  Grumach,  in:  Johann  Wolfgang  von
                    Goethe,  Werke  Goethes  [nicht  abgeschlossen],  hg.  v.  der  Deutschen  Akademie  der
                    Wissenschaften zu Berlin unter Leitung von Ernst Grumach, Berlin 1952ff., hier Bd. 3
                    (Paralipomena), 208-218. Vgl. auch K. Mommsen, Goethe (wie Anm. 5), 256-263. Kom-
                    mentierte Farbabbildungen in: Jochen Golz (Hg.), Goethes Morgenland fahrten. West-
                    östliche Begegnungen, Frankfurt am Main 1999, 192-203; 205-217; 219-222.
                 23  West-östlicher Divan (wie Anm. 22), Paralipomena 213b und 213e.
                 24  Brief an Christian Gottlob Voigt vom 10. Januar 1815 (WA IV 25, 141).
                 25  Goethe stieß auf eine Rezension Joseph von Hammers, die sich mit einer Notiz von
                    A.  Bianchi über  Šāhnā meh-Übersetzungsproben Jakob  von Wallenburgs befasst  und
                    in der Jenaischen Allgemeinen Lite ratur-Zeitung vom 2. und 3. Sep tember 1811 erschien
                    (Nr. 239, Sp. 1-8, und Nr. 240, Sp. 9-16).
                 26  Rypka  nennt  Firdausī  einen  »Riese[n]  […]  des  ganzen  neupersischen  Schrift tums«
                    (Rypka, Iranische Literaturge schichte [wie Anm. 15], 155). Vgl. Arberry, A[rthur] J., Persian
                    Literature, in: A. J. A. (ed.), The Legacy of Persia. Oxford 1953, 199-229, hier 200; sowie
                    Morrison, History (wie Anm. 15), 15, und Ham mer, Ge schichte (wie Anm. 17), 35-37.
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