Page 79 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Zur Wahrnehmung literarischer Fremdkanons   77

               eine überaus einflussrei che persi sche Lyrik-Anthologie des 15. Jahrhunderts, die
               zugleich Dichter biogra fien bie tet. Mangels Litera turgeschichtsschreibung haben
               solche taz .kirehs in Persien jahrhundertelang durch anthologische Se lektion und
               biografische Dichterdar stellung als die entscheidenden Kanoni sie rungsinstanzen
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               ge wirkt.  Mehr noch: taz .kirehs und speziell die Daulat-Šāhs waren »lange Zeit
               hin durch« auch »für Eu ropa sozusagen das einzige Hand buch der persi schen
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               Literatur«  – auch für Ham mer.  Wenn die ser nun Ḥāfiz . mit den Worten preist
               »Weit überfliegt er auf den Lichtbahnen des Ruhms die Namen vergan gener
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               und künftiger Dichter«,  dann gewinnt er für sich selbst als Überset zer dieses
               ›ruhmvollsten‹ aller Dichter enormes Prestige und Kanonisierungs macht – und
               zwar in ganz Eu ropa.
                   Goethe allerdings setzte mit seinen »älteren« und »neue ren« Divan-Liedern
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               zum spieleri schen Über flie gen an – wohl wissend, dass sein Gegenüber einer der
               ›ganz Großen‹ war. Das wurde ihm auch von anderer Seite bestätigt. Im März
                               ̣
               1814, als sich ein Hāfiz . noch nicht in seinem Horizontbereich befand,  sandte
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               15  Sie gelten »als die ersten heimischen Versuche um eine Literaturgeschichte« (Jan Rypka,
                   Iranische Literatur ge schichte, Leipzig 1959, 303). Rypka betont, die taz . kirehs seien »bei aller
                   Primitivität und man gelnder Genau igkeit […] eine unschätzbare Quelle von Kenntnissen
                   und Nachrichten« gewesen. Allerdings sei Dau lat-Šāh »leider nicht ohne Irrtümer, die
                   uns bei ihm auf Schritt und Tritt begegnen« (ebd., 304). Doch es war seine taz . kirehs, die
                   als Referenzwerk fungiert, sowohl im frankophonen Raum seit Silvestre de Sacy (Henri
                   Mas son, Anthologie persane, Paris 1950, unveränderte Neuaufl. 1997 u. 2004, 11) wie auch
                   im anglophonen Raum (George Morrison [ed.], History of Persian Literature From the
                   Be ginnings of the Islamic Pe riod to the Present Day. With Contributions by George Morrison,
                   Julian Baldick and Sahfī’ī Kadkanī, Lei den; Köln 1981, 80). – Vgl. aber ebd. die Kritik an
                   taz . kirehs, 13f., 135-137.
               16  Rypka, Iranische Literaturgeschichte (wie Anm. 15), 303f.
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               17  Daulat-Šāhs taz . kireh war nicht nur für Hammers Bemerkungen zu Hāfiz .  entscheidend,
                   sondern, noch kanoni sierender, mangels Alternative auch eine der Quellen seiner Ge-
                   schichte der schönen Redekünste Per siens mit einer Blüthenlese aus zweyhundert persischen
                   Dichtern, Wien 1818 (vgl. ebd., Vorwort, VII). Sie ist die erste und im 19. Jahrhundert
                   lange Zeit einzige europäische Literaturgeschichte Persiens.
               18  Hammer, Der Diwan (wie Anm. 8), XXXIX.
               19  »Neuer« sind sie, weil sie 500 Jahre nach denen des Ḥāfiz .  entstanden, »älter« sind sie,
                   weil mit den Themen Liebe, Wein und Gesang nicht nur auf Goethes Jugendlyrik,
                   sondern  auf  deren  noch  ältere  Herkunft  in  der  antiken  Anakreontik  verwiesen  ist.
                   Vgl. FA I 3.2, 1004.
               20  Es gab allerdings »Vorboten zum Divan«, die Goethes erneutes Interesse am Orient
                   vorspurten. Vgl. Bosse, Meine Schatzkammer (wie Anm. 7), 119-125.
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