Page 78 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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76 Anke Bosse
Demnach sind Goethes Grundimpulse zwei dialogische: der ›dichterische Wett-
streit‹ und eine Wahr neh mung, die vom ›Eigenen‹ im ›Anderen‹ affiziert ist und
so einer Irritation durch totale Alterität von vorn herein entkommt. Goethe
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erlebte eine beglückende ›Verjüngung‹, denn Hāfiz .’ Grundthemen Liebe, Wein
und Gesang befeuerten die Erinnerung an die eigenen lyrischen Anfänge. »Hafis
mit dir, mit dir allein / Will ich wetteifern! Lust und Pein / Sey uns den Zwillin-
gen gemein!« dichtete er – und schloss das Gedicht Unbegrenzt mit den Versen
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»Nun töne Lied mit eig nem Feuer! / Denn du bist älter, du bist neuer.« Diese
autopoietische Wendung auf das eigene Ge dicht, das aufgefordert wird, mit
»eigenem Feuer« zu »tönen«, vollzieht in den Komparativen »älter – neuer« eine
spielerisch wettei fernde Überbietung. Sie zielt auf die Dynamisierung des eigenen
Dichtens, nicht auf Überlegenheit – denn die Formel von den Zwillingen macht
das Gleichheits- und innige Ver wandt schaftsverhältnis deutlich. Euphorisiert
dichtete der 65-jährige zwischen Mai und De zember 1814 so viele großartige
Ge dichte wie nie zuvor: 53 an der Zahl. Sie sieht er be reits als ein Ensemble,
eine »Versammlung« an – das ist die deutsche Übersetzung von arabisch-persisch
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dīwān. So schrieb er auf das erste Titelblatt seines Divans: »Versamm lung deut-
scher Gedichte mit ste tem Bezug auf den Divan des persi schen Saengers Maho-
med Schem seddin Hafis«. Das dialogi sche Verhältnis zwi schen (deutscher)
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»Versamm lung« und (persischem) »Divan«, zwischen »deutschen« Gedichten und
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dem »persischen« Dichter Hāfiz . als Ge genüber sind offensichtlich. Dass Ḥāfiz . in
einem ›Fremdkanon‹ eine Spitzenposi tion innehat, wusste Goethe aus Hammers
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Vorrede. Sie stellt Hāfiz . vor als in Persien kanoni siert, und zwar als die »sel tenste
Erscheinung seiner Zeit, und das Wunder der Welt«, dessen »Worte […] über-
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menschliche Kraft« hatten. Hammer zitiert hier Daulat-Šāhs taz .kireh – das ist
11 West-östlicher Divan, FA I 3.1, 31.
12 Goethe wusste dies aus Hammers informativer Vorrede (Hammer, Der Diwan [wie
Anm. 8], III). Allein diese Vorrede hat über 10 Divan-Gedichte angeregt. Selbst
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Goethes Idee zur Zwil lingskonstellation mit Hāfiz . , ja womöglich Goethes Metapher
des ›Siebengestirns‹ für die 7 persischen Hauptdichter könnten von der astrologischen
Metaphorik dieser Vorrede angeregt worden sein, nennt sie doch gleich zu Anfang
»Horaz und Ha fis […] ein lyrisches Zwillingsgestirn, jener am west li chen, dieser am
östlichen Himmel« (ebd., I).
13 H 106/R 13 (Hervorhebungen A. B.). Vgl. Abb. 8 in FA I 3.1 und auf Bd. 1 von Bosse,
Meine Schatzkammer (wie Anm. 7) sowie ebd., 162-166.
14 Hammer, Der Diwan (wie Anm. 8), XIVf.