Page 77 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Zur Wahrnehmung literarischer Fremdkanons 75
übersetzt hatte. Dank Hammers Gesamt über set zung – die heute als Pioniertat
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kanonisiert ist – wirkten die Gedichte des Ḥāfiz ., eines persi schen Dich ters des
14. Jahrhunderts, so »lebhaft« auf Goethe ein, dass er bekannte:
[…] ich mußte mich dagegen productiv verhalten, weil ich sonst vor der mächtigen
Erschei nung nicht hätte be stehen können. […] Alles was dem Stoff und dem Sinne nach
bey mir Ähnliches ver wahrt und gehegt wor den, that sich hervor […]. 10
8 Der Diwan des Mohammed Schemsed-din Hafis. Aus dem Persischen zum erstenmal
ganz über setzt von Jo seph v. Hammer, 2 Bde., Stuttgart, Tübingen 1812–1813, Reprint:
Hildesheim; New York 1973. Vgl. Abb. 1 in West-östlicher Divan, FA I 3.1. Vgl. zu Ham-
mer und Goethe: Ingeborg Solbrig, Hammer-Purgstall und Goethe. »Dem Zaubermeister
das Werk zeug«, Bern 1973 (Stanford German Studies; 1).
9 Die Voraussetzungen für diese Pioniertat waren in Österreich denkbar günstiger als
etwa in Deutschland, wo die Orientalistik sich als akademisches Fach nur langsam
etablieren konnte – zu sehr wurde das Stu dium der vorderorientalischen Sprachen als
bloßes Hilfsstudium für die Bibelexegese gesehen und von der Theologie, die sich als
›Leitwissenschaft‹ verstand, vereinnahmt. Deswegen war in Deutsch land die Orien-
talistik meist noch in den Händen »dilettierender Liebhaber«, auch mangels jeglichen
di rekten Kontakts zum ›Orient‹ (vgl. Sabine Mangold, Eine »weltbürgerliche Wis-
senschaft« – die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004, 44f., 54, 123-
127). In Wien hingegen war durch die – zunächst kriegerischen, dann seit Ende des
17. Jahrhunderts diplomati schen – Kontakte zum Osmanischen Reich nicht nur eine
Möglichkeit geschaffen, rela tiv direkt an originale orientalische Literatur zu kommen.
Vielmehr erwachte mit Maria The resias Gründung der Kaiserlich-könig lichen
Akademie für Orientalische Sprachen 1754, die für die Kontakte zum Osmani schen
Reich sogenannte »Sprachjünglinge« in der klassischen Sprach trias Arabisch-Persisch-
Türkisch ausbildete, das wissenschaftliche In teresse am Orient: Die Orientalistik
konnte sich institutionalisieren. Hammer war ei ner der berühmtesten Absolventen
dieser Akademie, dann ihr Mitarbeiter. Er avancierte so und über seine weit reichende
Publi kationstätigkeit zu Österreichs führendem Orientalisten; heute wird er sogar als
»Be gründer der österreichi schen Orientalistik« angesehen (Wilhelm Baum, Josef von
Hammer Purgstall – ein österreichischer Pio nier der Orientalistik, in: Friedrich Schipper
(Hg.), Zwischen Euphrat und Tigris. Öster reichische For schungen zum Alten Orient, Wien
2004 [Wiener Offene Orientalistik; 3], 3-17, hier 3). Vgl. Mangold, ebd., 47 und öfter;
Ingeborg Solbrig, Joseph von Hammer-Purgstall, in: Donald G. Daviau (ed.), Major
Figures of Nineteenth-Cen tury Austrian Litera ture, Riverside, California 1998, 278-308. –
Es handelt sich hier aber um eine Rekanonisierung Hammers, denn im Verlauf des
19. Jahrhunderts wurde er vehement dekanonisiert. Vgl. Anm. 77-79.
10 Tag- und Jahreshefte 1815, FA I 17, 259f.