Page 76 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                 1.   Zwei als heilige Schriften vermeintlich unantastbare Kanons  werden
                    umperspektiviert, um kanoni siert zu Poesie; im gemeinsamen Kreuzungspunkt
                    ›Poesie‹ schwindet beim ver meint lich ›Fremden‹, dem Koran, die irritie-
                    rende ›Alterität‹, und das vermeintlich ›Eigene‹, die Bi bel, wird – in ein
                    ›verfremdendes‹ Licht getaucht – ein ›Anderes‹.  Also drei aufschlussreiche
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                    Per spektivenwechsel.

                 2.   Da Goethe, abgesehen von Hebräisch, keine orientalische Sprache erlernte,
                    übertrug er die Koran suren aus dem Lateinischen. Wir haben es mit der
                    Übersetzung einer Überset zung zu tun, also mit potenzierter Transforma-
                    tion.

                 Diese beiden Punkte werden uns bei Goethes größter Un ternehmung einer
                 Orientrezep tion beschäfti gen: bei seinem West-östlichen Divan. Er steht im
                 Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags.
                    Mit  241  Gedichten  ist  der  West-östliche  Divan  das  weitaus  größte
                 Gedichtensemble in Goe thes Ge samtwerk. Der Divan verdankt sich einer
                 bei spiellosen, euphorisierenden Produktivität – und sie er fasste den alten,
                 65-jährigen Dichter. Den entscheidenden Impuls erfuhr Goethe im Mai 1814
                 vom Diwan des Mohammed Schemsed-din Hafis, den der Wiener Orientalist
                 Joseph von Ham mer erstmals vollständig aus dem Persischen ins Deutsche






                 6   Das  altgriechische  Wort  kanòn  hat  sprachgeschichtlich  semitische  Wurzeln  –
                    also  genau  in  der  Sprachfamilie,  der  alle  Originalsprachen  des  Alten  und  Neuen
                    Testaments  sowie  des  Korans  angehören.  Dies  ist  insofern  bezeichnend,  als  es  für
                    Buch-  und  Offenbarungsreligionen  wie  das  Judentum,  das  Christentum  und  den
                    Islam  charakteristisch  ist,  dass  sie  ihre  ›heiligen  Bücher‹  als  »geschlossene  Kanones«
                    festschreiben:  Hermann  Korte,  K  wie  Kanon  und  Kultur.  Kleines  Kanonglossar  in  25
                    Stichwörtern,  in:  Heinz-Ludwig  Arnold  (Hg.),  Literarische  Kanonbil dung,  München
                    2002, 25-38, hier 27f.
                 7   Mehr noch: Ganz auf der Linie seiner Überzeugung, Dichten sei ein anthropologisches
                    Grundbedürfnis  und  man  müsse  daher  zu  den  »ältesten  Urkunden«  der  Poesie
                    vordringen, interessierte sich der junge Goethe auch für die Mu’allaqāt, vor islamische
                    arabische  Dichtungen  des  6.  Jahr hunderts.  Eine  Mu’allaqa  übertrug  er  nach  der
                    englischen  Übersetzung  des William  Jones  ins  Deutsche  (FA  I  12,  371f.). Vgl.  dazu
                    Momm sen, Goe the (wie Anm. 5), 51-56, und Anke Bosse, »Meine Schatzkammer füllt
                    sich täglich …«. Die Nachlaßstücke zu Goethes ›West-östlichem Divan‹. Dokumentation –
                    Kommentar, 2 Bde., Göttingen 1999, 63f.
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