Page 75 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Zur Wahrnehmung literarischer Fremdkanons 73
Anke Bosse
Zur Wahrnehmung literarischer Fremdkanons
am Beispiel von Goethes Orientrezeption
Für Johann Christoph Bürgel
Goethes Interesse am Orient, insbesondere an orientalischer Dichtung, reicht
bis in seine Jugend zu rück. Als erstes zu nennen ist die Bibel, die Goethe als 21-
Jähriger unter Anleitung Johann Gottfried Her ders nicht nur als ›Glaubens buch‹
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des Juden- und Christentums im europäischen Kontext zu se hen lernte, sondern
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als »hebräische«, sprich: orientalische – »Dichtkunst«. Er erkannte: Diese »ältes-
ten Urkunden als Poe sie gaben das Zeugnis, daß die Dichtkunst überhaupt eine
Welt- und Völkergabe sei.« Begeistert über setzte der junge Mann das Hohe lied.
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Dichten als dem Menschen eingeborenes Können, Dichten als anthropologische
Grund konstante – das hat Goethe zeitlebens fasziniert. Als ihm derselbe Herder
auch noch ei nen ›Fremdkanon‹ par excellence, den Koran, erneut als Dichtung
nahe brachte, über setzte er auf der Basis einer lateini schen Koran-Übertragung
ein paar Suren ins Deut sche. Halten wir als bemer kenswert fest:
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1 Vgl. zu Herders »Schlüsselstellung […] in der Rezeption der orientalischen Kultur in
Deutschland«: Barbara Stemm rich-Köhler, Zur Funktion der orientalischen Poesie bei
Goethe, Herder, Schlegel, Frank furt am Main (etc.) 1992, 48.
2 Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: J. W. v. G.,
Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bde., hg. v. Friedmar Apel u. a.,
Frankfurt am Main 1985–1999. Die Frankfurter Goethe-Ausgabe wird zukünftig mit
der Sigle FA zitiert – die Abteilung mit römischer Ziffer, der Band mit arabischer, dann
folgend die Seitenzahlen (hier: FA I 14, 438, 445). – Goethe er wähnt in die sem Zu-
sammenhang ganz richtig den englischen Theologen Robert Lowth (1711–1787), der
mit seinen Prae lecti o nes academicae de poesia sacra Hebraeorom (1753), in denen er den
poetischen Cha rakter der Bi bel als un erreichbar dar stellte, die Bi belwissenschaften
revolutio nierte. Herder folgte diesen Überlegungen kri tisch in Vom Geist der Ebräischen
Poesie (1782-83), anti zipierte sie aber auch schon in Älteste Urkunde des Men schengeschlechts
(1774–76). – Vgl. Stemmrich-Köh ler, Zur Funktion (wie Anm. 1), 46-84.
3 FA I 14, 445, Hervorhebung A. B.
4 Vgl. FA I 12, 364-370.
5 Bereits 1772 zog Goethe Teile einiger Suren aus David Fried rich Megerlins deut-
scher Koran-Übersetzung (1772) und formulierte sie leicht um. Ihnen fügte er
Teilübersetzungen der 6. und 10. Sure nach der lateini schen Koran-Übertragung des
Ludovicus Maraccius von 1698 hinzu. Vgl. FA I 12, 361-364 sowie ferner: Ka tharina
Mommsen, Goethe und die arabische Welt, Frankfurt am Main 1988, 157-238.