Page 65 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Klassikermacher                    63

                   Die  Goethe-Panegyrik  Ludwig  Robert-tornows  antizipiert  die  poetische
               und philologische Zitierfreudigkeit, wie sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
               hunderts rasant anwachsen sollte.  Das Verfahren einer Auslese und Kommen-
                                          25
               tierung  von  lyrischen  Leseblüten  aus  einem  klassischen  Dichterwerk  erhebt
               Robert-tornow bereits in poetischer Form zum formalen Paradigma späterer
               Sammlungen sogenannter geflügelter Worte. Ein Zentrum solcher Klassiker-
               Wertschätzung als klassische Wortschätzung ist zweifellos Berlin. Denn neben
               dem zeitgenössischen Goethe-Enthusiasmus als urbaner Modeerscheinung soll-
               te später auch jene philologisch-didaktische (und poetisch bzw. übersetzerisch
               produktive) Richtung von Berlin ihren Ausgang nehmen, die sich vom Kult
               um die Person löste und die Klassikerrezeption als lexikografische Pflege des
               Dichterworts konsequent modernisierte.


                          Der Sprachwissenschaftler Georg Büchmann


               Einen der wichtigsten Vertreter dieser philologischen Klassikermacher des 19. Jahr-
               hunderts verkörpert der Sprachwissenschaftler und Philologe Georg Büchmann
               (1822–1884). Georg August Methusalem Büchmann wurde in Berlin-Schöne-
               berg geboren und besuchte das Joachimsthalsche Gymnasium. Er studierte Theo-
               logie und Sprachwissenschaften und war von 1854 bis 1877 als Sprachlehrer in
               Berlin tätig. Seine Sammlung Geflügelte Worte. Der Citatenschatz des Deutschen
               Volkes, die im Jahre 1864 in der Haude und Spenerschen Verlagsbuchhandlung
               (Friedrich Weidling) zu Berlin in der 1. Auflage erschien, wuchs im Laufe zahl-
               reicher ergänzender und aktualisierender Überarbeitungen von anfangs 220 auf
               knapp 1.000 Seiten (in der 30. Auflage) und erlebte bis heute über 40 Auflagen.
               Als der Große Büchmann ist das Werk zum Inbegriff einer bis heute unübertroffe-
               nen Rezeption der klassischen Literatur Europas geworden. Als wissenschaftlich

               fundiertes Werk gelangte es selbst zu Rang und Ruhm eines Buchklassikers.Nicht
               nur als wahres Hausbuch im Wortsinne hat die Sammlung Büchmanns über das
               bürgerliche Bücherregal hinaus auf die öffentliche Bildung nachhaltig eingewirkt.
               Der ›Büchmann‹ spricht den Philologen ebenso an wie den einfachen Leser und



               25  Vgl. Robert Charlier, Jedermann ein Eckermann? Goethe-Rezeption im digitalen Zeit-
                   alter, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 37/1 (2005), 161-168; Robert Charlier,
                   Goeth(e)ismus. Zur Phänomenologie literarischer Zitation, in: Jahrbuch für Internatio-
                   nale Germanistik 39/2 (2007), 99-116.
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