Page 60 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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der Heimatmetropole in Mittel-und Südamerika sowie in Rußland vollbrin-
gen und seine Entdeckungen vor allem in Paris berühmt machen. Dabei sollte
Goethe als Naturforscher, als der er sich spätestens seit der Veröffentlichung
seiner Farbenlehre (1810) verstand, ausgerechnet aus der sich zu Beginn des
19. Jahrhunderts auch in Berlin sprunghaft modernisierenden Naturwissen-
schaft die wohl einzige nachhaltige Verweigerung eines Weltgeltungsstatus’ ent-
gegenschlagen. So nahm Goethe zwar mehr oder weniger teilnahmslos eine
Fülle von akademischen Ehrungen und Mitgliedschaften in Akademien und
Gelehrtensozietäten entgegen. Es blieb ihm aber zeitlebens und letztlich auch
postum versagt, von der wissenschaftlichen Öffentlichkeit als bahnbrechender
Naturwissenschaftler, etwa im Range eines Isaac Newton, anerkannt zu werden.
So lautet die Wiedergabe eines späten Gesprächs mit Eckermann:
Auf alles, was ich als Poet geleistet habe […] bilde ich mir gar nichts ein. Es haben treff-
lichere Dichter mit mir gelebt, es lebten noch Trefflichere vor mir, und es werden ihrer
nach mir sein. Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft
der Farbenlehre der Einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zu gute,
und ich habe daher ein Bewußtsein der Superiorität über Viele.
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Unter den vielen (natur)wissenschaftlichen Ehrungen, die Goethe zuteil wur-
den, war seit 1806 auch die Ehrenmitgliedschaft in der Königlichen Akademie
der Wissenschaften zu Berlin. Goethe strafte die organisierte Wissenschaft
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und Gelehrtenwelt, indem er sie als verzopftes »Gildewesen« abtat:
Nicht alle sind Erfinder, doch will jedermann dafür gehalten sein; um so verdienstlicher
handeln diejenigen, welche, gern und gewissenhaft, anerkannte Wahrheiten fortpflanzen.
Freilich folgen darauf auch weniger begabte Menschen, die am Eingelernten festhalten,
am Herkömmlichen, am Gewohnten. Auf diese Weise bildet sich eine sogenannte Schule
und in derselben eine Sprache, in der man sich nach seiner Art versteht, sie deßwegen
aber nicht ablegen kann, ob sich gleich das Bezeichnete durch Erfahrung längst verändert
hat. Mehrere Männer dieser Art regieren das wissenschaftliche Gildewesen, welches, wie
ein Handwerk das sich von der Kunst entfernt, immer schlechter wird, je mehr man das
eigenthümliche Schauen und das unmittelbare Denken vernachlässigt. 15
13 Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. v.
Christoph Michel unter Mitwirkung von Hans Grüters, Frankfurt am Main 1999, 320,
21-28 (Gespräch vom 19. Februar 1829).
14 Zu Goethes Mitgliedschaften in den größeren Wissenschaftsakademien seiner Zeit vgl.
Robert Charlier, Der Berliner Mythos von Weimar (wie Anm. 1), 398, Anm. 5.
15 Goethes Werke (Weimarer Ausgabe), hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von
Sachsen, 133 in 143 Bdn., Weimar 1887–1919, II. Abt., Bd. 11 (1893), 252, 9-24 (»Zur
Naturwissenschaft. Meteore des literarischen Himmels«).