Page 60 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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58                        Robert Charlier

                 der Heimatmetropole in Mittel-und Südamerika sowie in Rußland vollbrin-
                 gen und seine Entdeckungen vor allem in Paris berühmt machen. Dabei sollte
                 Goethe als Naturforscher, als der er sich spätestens seit der Veröffentlichung
                 seiner Farbenlehre (1810) verstand, ausgerechnet aus der sich zu Beginn des
                 19. Jahrhunderts auch in Berlin sprunghaft modernisierenden Naturwissen-
                 schaft die wohl einzige nachhaltige Verweigerung eines Weltgeltungsstatus’ ent-
                 gegenschlagen. So nahm Goethe zwar mehr oder weniger teilnahmslos eine
                 Fülle von akademischen Ehrungen und Mitgliedschaften in Akademien und
                 Gelehrtensozietäten entgegen. Es blieb ihm aber zeitlebens und letztlich auch
                 postum versagt, von der wissenschaftlichen Öffentlichkeit als bahnbrechender
                 Naturwissenschaftler, etwa im Range eines Isaac Newton, anerkannt zu werden.
                 So lautet die Wiedergabe eines späten Gesprächs mit Eckermann:
                    Auf alles, was ich als Poet geleistet habe […] bilde ich mir gar nichts ein. Es haben treff-
                    lichere Dichter mit mir gelebt, es lebten noch Trefflichere vor mir, und es werden ihrer
                    nach mir sein. Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft
                    der Farbenlehre der Einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zu gute,
                    und ich habe daher ein Bewußtsein der Superiorität über Viele.
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                 Unter den vielen (natur)wissenschaftlichen Ehrungen, die Goethe zuteil wur-
                 den, war seit 1806 auch die Ehrenmitgliedschaft in der Königlichen Akademie
                 der Wissenschaften zu Berlin.  Goethe strafte die organisierte Wissenschaft
                                         14
                 und Gelehrtenwelt, indem er sie als verzopftes »Gildewesen« abtat:
                    Nicht alle sind Erfinder, doch will jedermann dafür gehalten sein; um so verdienstlicher
                    handeln diejenigen, welche, gern und gewissenhaft, anerkannte Wahrheiten fortpflanzen.
                    Freilich folgen darauf auch weniger begabte Menschen, die am Eingelernten festhalten,
                    am Herkömmlichen, am Gewohnten. Auf diese Weise bildet sich eine sogenannte Schule
                    und in derselben eine Sprache, in der man sich nach seiner Art versteht, sie deßwegen
                    aber nicht ablegen kann, ob sich gleich das Bezeichnete durch Erfahrung längst verändert
                    hat. Mehrere Männer dieser Art regieren das wissenschaftliche Gildewesen, welches, wie
                    ein Handwerk das sich von der Kunst entfernt, immer schlechter wird, je mehr man das
                    eigenthümliche Schauen und das unmittelbare Denken vernachlässigt. 15



                 13  Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. v.
                    Christoph Michel unter Mitwirkung von Hans Grüters, Frankfurt am Main 1999, 320,
                    21-28 (Gespräch vom 19. Februar 1829).
                 14  Zu Goethes Mitgliedschaften in den größeren Wissenschaftsakademien seiner Zeit vgl.
                    Robert Charlier, Der Berliner Mythos von Weimar (wie Anm. 1), 398, Anm. 5.
                 15  Goethes Werke  (Weimarer  Ausgabe),  hg.  im  Auftrage  der  Großherzogin  Sophie  von
                    Sachsen, 133 in 143 Bdn., Weimar 1887–1919, II. Abt., Bd. 11 (1893), 252, 9-24 (»Zur
                    Naturwissenschaft. Meteore des literarischen Himmels«).
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