Page 62 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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60 Robert Charlier
Dabei muß ich aber doch auch noch die andere Bemerkung machen, daß das Berli-
ner Theater das einzige in Deutschland ist, auf welchem sich eine allgemeine deutsche
Sprache ausgebildet hat, so daß – ich spreche natürlich von den gebildeten Schauspie-
lern – der Berliner, zumal in dem höhern Drama und Trauerspiel, auf jeder Bühne in
Deutschland auftreten kann. 18
Die Berliner Provinz erkennt Goethe zugleich als einzigartige Theaterlandschaft,
in der eine deutsche Hoch- und Bühnensprache kultiviert wird. Freiheit und
Frechheit bei gleichzeitiger Schollengebundenheit des Geistes – landschaftliche
Provinzialität und hochsprachliche Urbanität – derart dichotomisch betrachtete
der reife Goethe das geistige Berlin. Hat aber alles Besondere und Herausragen-
de nicht oftmals seinen blitzhaften Ursprung in einer solch widersprüchlichen
Gemengelage? Im Hinweis auf die Schlagfertigkeit und »Schnelligkeit« der
Berliner Schnauze scheint jedenfalls auch jene fasziniert-skeptische Ambivalenz
anzuklingen, die der alternde Goethe gegenüber der Beschleunigung in allen
Bereichen des Lebens verspürte.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts versammelte Berlin den größten Teil der
romantischen Geselligkeit und brachte nicht nur eine Bettina Brentano (von
Arnim) hervor, sondern neben den vielen, vornehmlich weiblichen Vertretern
der Berliner Salonkultur wie Henriette Herz, Rahel Varnhagen oder Dorothea
Schlegel auch ein fein verästeltes Personennetz der Goetheverehrung. Im un-
mittelbaren Umfeld dieses jungen und modernen Berlin entstanden nach den
literarischen Dokumenten des wertherisierenden Epigonentums auch die er-
sten publizistischen Vorläufer der modernen Goethe-Philologie. Darunter zählt
das apologetische Werk Über Goethe, literarische und artistische Nachrichten
(1. Teil, Leipzig 1828), verfasst von Alfred Nicolovius, Goethes zeitweise in
Berlin wirkendem Großneffen. Der junge Nicolovius widmete Goethe seine
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Schrift zu dessen Geburtstag vom Jahr zuvor, dem 28. August 1827. Goethe
begegnete dieser Welle der Verehrung und Wertschätzung durch die jüngere
Berliner Generation allerdings mit Skepsis. So beurteilt er ausgerechnet Nicolo-
vius’ publizistische Arbeiten als eher oberflächliche Schnellschreiberei, die ihm
unliebsam blieb. Das Tempo der neuen Pressewelt, die Klatsch und Tratsch in
einem heutigen Sinne bereits annähernd global zu verbreiten imstande war –
die Institution einer ›Weltpresse‹ bahnt sich an – machten Goethe misstrauisch.
18 Goethes Gespräche (wie Anm. 17), Bd. 3.2, 805 (gleiches Gespräch).
19 Alfred Nicolovius (1806–1890) war der sechste Sohn von Georg Heinrich Ludwig Ni-
colovius dem Älteren (1767–1839), der mit Maria Anna Louise Schlosser verheiratet
war, der Tochter aus der Ehe von Goethes einziger Schwester Cornelia (1750–1777) mit
Johann Georg Schlosser (1739–1799).