Page 67 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
P. 67

Klassikermacher                    65

               eine  Bearbeitungsstufe  durchlaufen,  die  für  alle  späteren  Kompilatoren  und
               Redaktoren maßgeblich blieb. Erst der Berliner Bibliothekar, Philologe und
               Übersetzer  Walter  Heinrich  Robert-tornow  (1852–1894)  sorgte  mit  seiner
               enormen Belesenheit, philologischen Akribie und der sprachlichen Virtuosität
               des Übersetzers für die entscheidende Optimierung des Büchmannschen Wer-
               kes. Innerhalb der Klassikerwerdung des Zitatenschatzes fungierte er wiederum
               als produktiver Klassikermacher.
                   Der Philologe und Übersetzer Walter Heinrich Robert-tornow war Groß-
               neffe des bereits kurz porträtierten Dichters Ludwig Robert(-tornow). Walter
               Robert-tornow wirkte in Berlin als kaiserlicher Hausbibliothekar und sollte au-
               ßer mit eigenen poetischen Versuchen mit einer bemerkenswerten Übersetzung
                                                         29
               der Sonette Michelangelo Buonarrotis hervortreten.
                   »In  welchem  Umfange  das Werk  nach  Büchmanns Tode  erweitert  worden  ist,  mag
                   durch folgende Angaben beleuchtet werden: In die von Robert-tornow […] bearbei-
                   teten 5 Auflagen (14. bis 18.) wurden neben zahlreichen Verbesserungen und Berich-
                   tigungen 730 neue Zitate und Ausdrücke aufgenommen, so daß die 18. Auflage mit
                   2630 geflügelten Worte abschloß.« 30

               Es ist davon auszugehen, dass Robert-tornow auf eine Fülle von Goethezitaten
               zurückgriff, die er im Zusammenhang mit seiner heute leider eher vergessenen
               Beschäftigung mit dem Weimarer Dichter und seiner jungdeutschen Rezepti-
               onsgeschichte aus den Quellen geschöpft hatte. 31



                                      Berlin und Weimar

               Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden im Umfeld des jungen und ›mo-
               dernen‹ Berlin zudem die ersten Zeugnisse der historischen, biografischen und
               philologischen Goethe-Kultivierung. Darunter zählen Karl August Varnhagen
               von Enses Goethe in den Zeugnissen der Mitlebenden (Berlin 1823) und der von
               ihm herausgegebene Briefwechsel mit seiner prominenten Ehefrau (Rahel. Ein


               29  Die  Gedichte  des  Michelangelo  Buonarrotti,  übersetzt  und  biographisch  geordnet
                   von  Walter  Robert-tornow,  hg.  v.  Georg  Thouret,  Berlin  (Haude  und  Spener’sche
                   Buchhandlung/F. Weidling) 1896. Zu Büchmann, Robert-tornow: Allgemeine Deutsche
                   Biographie sowie Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, Jg. 68 (1972), Nr. 5
                   und Jg. 69 (1973), Nr. 1.
               30  Werner Rust/Gunther Haupt, Vorwort, in: Geflügelte Worte (wie Anm. 26), XII.
               31  Vgl. Goethe in Heine’s Werken, dargestellt von Walter Robert-tornow, Berlin (Haude und
                   Spener’sche Buchhandlung/F. Weidling) 1883.
   62   63   64   65   66   67   68   69   70   71   72