Page 61 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Klassikermacher 59
Aus dem von der Metropole Berlin ausgehenden Geist der aufgeklärten Mo-
derne erfuhr Goethe im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht nur die maß-
geblichen Impulse für seine spätere Kanonisierung zum Weltliteraten, die ihm
nach eigenen, gewiss zu relativierenden Aussagen, gar nicht so wichtig war. Aus
den Naturwissenschaften, die sich zu seinen Lebzeiten aus der vormodernen
Naturforschung zu emanzipieren begann, widerfuhr Goethe möglicherweise
auch die einzige nennenswerte Kanonverweigerung seiner Existenz.
Homeriden versus Veloziferiker
Mit Blick zurück auf das vormoderne Berlin zum Ende des 18. Jahrhunderts
war es vielleicht gerade eine gewisse märkische Trägheit bei einer gleichzeitigen
Urbanität in der Sprache, die noch der alte Goethe in einer Charakterisierung
der Berliner Wesensart wachruft:
Viele sogenannte Berliner Witze und schnelle Erwiderungen […] gaben aber doch nur
Begriff von einer höchst platten Lebensweise und einem Mangel an eigentlich geistiger
Thätigkeit.
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Diese Kritik des Berliner Witzes erscheint doppelbödig. Einerseits zeugt die Äu-
ßerung von der Bewunderung, die Goethe dem sprachschöpferischen Wortbil-
dungsvermögen des Berliner Humors zollt. Wortbildungen wie »Butterkeller-
treppengefalle« klangen besonders in der berlinerischen Form auf -jefalle in den
Ohren des Dichters wie ein sprechender Beweis für die reihende Wortbildungs-
fähigkeit des Berliners, die den regen Übersetzer Goethe an die klassischen, no-
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minal reihenden Neologismen eines Aristophanes erinnerte. So fährt Goethe
denn auch an gleicher Stelle mit Blick auf die Bedeutung der werdenden Kul-
turmetropole für die Herausbildung einer nationalen Hochsprache fort:
16 Tagebuchwiedergabe eines Gesprächs mit Alfred Nicolovius, datiert Weimar, den
15. April 1828; vgl. Goethes Werke (wie Anm. 15), III. Abt., Bd. 11 (1900), 206, 2-6.
17 Vgl. Goethes Gespräch mit Friedrich Förster: »Butterkellertreppengefalle, das ist ein
Wort, wie es Aristophanes nicht gewagter hätte bilden können, man fällt ja selbst mit
hinunter, ohne auch nur eine Stufe zu verfehlen.« (Goethes Gespräche, hg. v. Wolfgang
Herwig, Zürich; Stuttgart 1972, Bd. 3.2, 805; datiert Weimar 1831 [1837]). – Zur Sache:
»Kellerladen zum Butterverkauf«; vgl. (Artikel) Butterkeller, in: Brandenburg-Berlinisches
Wörterbuch, hg. v. der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Begrün-
det und angelegt von Anneliese Bretschneider unter Einschluß der Sammlungen von
Hermann Teuchert, bearbeitet unter der Leitung von Gerhard Ising (4 Bde., Berlin;
Neumünster 1976–2001). Bd. 1 (1976), 865.