Page 63 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Klassikermacher 61
Zugleich ahnte der alternde Dichter die enorme Brisanz dieser neuen Produkti-
onsbedingungen und Rezeptionsmöglichkeiten von Information. Als Ausgangs-
punkt dieses frühmodernen medialen Strukturwandels firmiert für Goethe die
›Stadt‹ als funktionelles Bindeglied zwischen der ›Provinz‹ des Individuums und
einer Weltöffentlichkeit, die Kontinente umspannte:
Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden läßt, muß ich halten, daß
man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeis’t, den Tag im Tage verthut
und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen.
Haben wir doch schon Blätter für sämmtliche Tageszeiten! Ein guter Kopf könnte wohl
noch eins und das andere intercaliren [= dazwischenschieben, einreihen; Anm. R. C.].
Dadurch wird alles, was ein jeder thut, treibt, dichtet, ja was er vorhat, in’s Öffentliche
geschleppt. Niemand darf sich freuen oder leiden als zum Zeitvertreib der Übrigen, und
so springt’s von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von
Welttheil zu Welttheil, alles velociferisch [Hervorhebung R. C.]. 20
Unter den Zeugnissen der frühen lyrisch-literarischen Goethe-Huldigung fin-
det sich auch ein Gedicht des in Berlin geborenen Dramatikers und Dichters
Ernst Friedrich Ludwig Levin, später genannt Robert. Ernst Friedrich Ludwig
Levin alias Robert (1778–1832) war ein Bruder der Rahel Levin (1771–1833),
verheiratete Varnhagen; die beiden Geschwister wiederum Kinder des jüdischen
Berliner Bankiers Marcus Levin oder Levin Marcus Cohn (auch Loeb Cohen,
1723–1790). Ludwig führte seit 1812 den Namen Robert-tornow [sic], der auf
den früheren Wohnsitz der Familie Levin-Róbert hinwies. Dies geschah, um
eine Verwechslung mit der gleichnamigen französischstämmigen Hugenotten-
oder Kolonie-Familie (frz. Robért) zu vermeiden. Robert-tornow ließ sich 1819
taufen, um Friederike Braun, geschiedene Primavesi (1795–1832) zu heiraten,
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eine auch literarisch gefeierte Schönheit, die selber schriftstellerisch tätig war.
In seiner poetischen Apotheose Goethes aus dem Jahre 1803 präfiguriert Lud-
20 Goethes Werke (wie Anm. 15), I. Abt., Bd. 42.2, 171; »Maximen und Reflexionen«, Hecker-
Nr. 479; entspricht in Teilen des Wortlauts dem Brief an Nicolovius den Älteren, vgl.
Goethes Werke (wie Anm. 15), IV. Abt., Bd. 50, 244, datiert auf Ende November 1825.
21 Den von ihm hochverehrten Goethe lernte Robert im August 1804 in Bad Lauchstädt
kennen, der wiederum zwei Dramen seines Verehrers in Weimar inszenieren sollte (Die
Tochter Jephtas, 1811/1820; Die Macht der Verhältnisse, 1819). Als Feuilletonist schrieb
Robert für Varnhagen/von Chamissos Musenalmanach und war Beiträger von Cottas
Morgenblatt. Dichterisch wirkte er als Librettist und Verfasser patriotischer Lyrik wäh-
rend der Freiheitskriege. Starke Strahlkraft entwickelte er als Übersetzer von Racine, Alex-
andre Duval und Pierre Baour de Lormian für die deutsche Bühne. Vgl. (Artikel) Robert,
Ernst Friedrich Ludwig, in: Neue Deutsche Biographie, hg. v. der Historischen
Komission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 21 (2003), 679f.