Page 70 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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68 Robert Charlier
Die skizzierte Geschichte des Berliner Mythos von Weimar lebt weiter
in der fest mit Berlin verbundenen Philologie und Lexikografie des 19. und
20. Jahrhunderts. Zum einen handelt es sich dabei um das mit Jacob und
Wilhelm Grimm verbundene monumentale Wörterbuch des neueren Hoch-
deutsch, das noch weitgehend den Traditionslinien der Klassikerpflege des
19. Jahrhunderts verpflichtet blieb. So kam dem Wort- und Zitatenschatz Goe-
thes im Deutsch[en] Wörterbuch (u. a. begonnen in Berlin, erschienen in Leipzig
1854–1960/1971) neben der Sprache z. B. Lessings oder Schillers eine heraus-
ragende Stellung zu. Etwas verkürzend wurde das Grimmmsche Jahrhundert-
projekt sogar als ein Wörterbuch apostrophiert, das das neuere Hochdeutsch
›von Luther bis Goethe‹ diachron dokumentiere – so griffig und ›werbewirksam‹
plausibel erschien den Sprachwissenschaftlern des 19. und frühen 20. Jahrhun-
derts die Formel von Goethe als Vollender einer ganzen Sprachepoche.
Der berlingemachte Weimarmythos setzt sich schließlich fort in der Ber-
liner Goetheforschung des 20. und 21. Jahrhunderts. Ihren Wurzelboden hat
dieser bedeutende Zweig der Goetheforschung in der deutsch-deutschen Ge-
schichte des Instituts für Sprache und Literatur an der damaligen Deutschen
Akademie der Wissenschaften, der späteren Akademie der Wissenschaften der
DDR. So entwickelte sich die Berliner Goetheforschung nach dem Zweiten
Weltkrieg im Wesentlichen in drei Strängen. Dabei handelt es sich (1.) um
das von dem Altphilologen Wolfgang Schadewaldt (1900–1974) in den Jahren
1946/49 begründete Goethe-Wörterbuch sowie (2.) um die (historisch-kritische)
Akademieausgabe der Werke Goethes (1952–1966). Die Akademieausgabe wur-
de maßgeblich verantwortet von Ernst Grumach, Hanna Fischer-Lamberg und
Siegfried Scheibe. Eine Filiation (2a) im Forschungskontext der Akademieaus-
gabe bildete das Werk Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes
Werken (1966–1986), erarbeitet von Goetheforscherinnen wie Waltraud Hagen
und Inge Jensen. Daneben ist (3.) vor allem das Standardwerk Die Entstehung
von Goethes Werken in Dokumenten (EGW) zu nennen. Die Erforschung der
Entstehungsgeschichte der Goetheschen Werke und naturwissenschaftlichen
Schriften verband der Schadewaldt-Schüler Momme Mommsen (1907–2001)
darin in enger Zusammenarbeit mit seiner Frau Katharina mit einer lexikogra-
fisch umfassenden Darstellung von A bis Z. Fast genau ein halbes Jahrhundert
nach der abrupten Unterbrechung durch die deutsch-deutsche Teilung von
1961 erlebte dieses ambitionierte Projekt der geisteswissenschaftlichen Grund-
lagenforschung seine Wiederaufnahme. So konnte der Fortsetzungsband 3 der
EGW zusammen mit einem Nachdruck der beiden ersten Bände von 1958 im