Page 64 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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62                        Robert Charlier

                 wig Robert bereits im Kern eine Form der Goethe-Feier, wie sie in der Folge
                 die romantische und nachromantische Philologie und Lexikografie bestimmen
                 wird. Kurze, poetisch paraphrasierende Zitate aus der Goetheschen Lyrik und
                 Prosa umgibt Robert dabei mit eigenem hymnischem Dichterlob auf den Wei-
                 marer Jupiter-Apoll. Vers, Metrum und Diktion geraten dabei direkt (durch
                 die verfremdeten Goethe-Zitate) und indirekt (durch den imitatorischen poeti-
                 schen Gestus) zum goethisierenden Sprachmedium:
                    »Auch selbst der Homeriden letzter ist
                    Es schön zu sein«; da fühlt ich mich erhoben,
                    Von Deinem Geist befruchtet meine Seele,
                    Und freudig-zitternd griff ich nach der Leier. 22
                 Goethes Homeriden-Diktum  – hier offenbar schon als geflügeltes Wort zitiert
                 und paraphrasiert – zielte auf ein Selbstbild des Dichters, das sich rückhaltlos
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                 der archaischen und klassischen Antike anheimgab.  Dies geschieht angesichts
                 eines sich modernisierenden und beschleunigenden Zeitgeistes, den Goethe vor
                 allem als Signum eines großstädtischen Milieus ansah. In einem Brief an den
                 Berliner Freund Zelter wird der alte Goethe einmal mehr betonen, dass er sich
                 als Künstler wie ein letzter Vertreter eines vergangenen Zeitalters unter lauter
                 jungen urbanen Veloziferikern vorkomme, deren Lebensstil und -tempo ihn
                 zutiefst skeptisch stimme. 24




                 22  Zitiert nach Erna Arnhold, Goethes Berliner Beziehungen, Gotha 1925, 74. – Bei Goethe
                    heißt es in der Elegie Hermann und Dorothea wörtlich: »Homeros […] | Denn wer wag-
                    te mit Göttern den Kampf? und wer mit dem Einen? | Doch Homeride zu sein, auch
                    nur als letzter, ist schön.« (Goethes Werke [wie Anm. 15]. I. Abt., Bd. 1, 294, Verse 27 bzw.
                    29-30). Vgl. dazu an anderer Stelle: »Laßt doch den deutschen Dichtern den frommen
                    Wunsch auch als Homeriden zu gelten! Deutsche Bildhauer, es wird euch nicht schaden
                    zum Ruhm der letzten Praxiteliden zu streben!« (Goethes Werke  [wie Anm. 15], I. Abt.,
                    Bd. 48, 209; »Maximen und Reflexionen. Aus dem Nachlaß«, Hecker-Nr. 1097).
                 23  Vgl. (Artikel) Homeride, in: Goethe-Wörterbuch, hg. v. der Berlin-Brandenburgischen
                    Akademie der Wissenschaften [bis Bd. 1, 6. Lfg.: Deutsche Akademie der Wissenschaf-
                    ten zu Berlin; bis Bd. 3, 4. Lfg.: Akademie der Wissenschaften der DDR], der Akademie
                    der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
                    Stuttgart; Berlin; Köln[; Mainz] 1978–2007, Bd. 4 (2004), Sp. 1386, 56-69.
                 24  So  schließt  Goethe  seinen  berühmten  Brief  an  Zelter  über  die  Geburtswehen  der
                    Moderne im 19. Jahrhundert mit den elegischen Worten »[…] wir werden, mit viel-
                    leicht noch wenigen, die Letzten seyn einer Epoche die sobald nicht wiederkehrt (Brief
                    an C. F. Zelter, datiert 6. Juni 1825; zitiert nach Goethes Werke [wie Anm. 15], IV. Abt.,
                    Bd. 39, 216).
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