Page 59 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
P. 59

Klassikermacher                    57

               Vielmehr zählte Moritz auch zum harten Kern derjenigen ›Berliner Agenten‹
               des Faszinosums Goethe, die in ihrer persönlichen und literarischen Verehrung
               – so Schillers Skepsis – einer quasi-religiösen oder sogar kultischen »Abgötterei«
               zu verfallen drohten. So urteilt Schiller in einem Brief an den Freund Christian
               Gottfried Körner über Moritz:
                   Seine Aesthetik und Moral sind ganz aus einem Faden gesponnen; seine ganze Existenz
                   ruht auf seinen Schönheitsgefühlen. Die Abgötterei, die er mit Goethe treibt, und die
                   sich soweit erstreckt, daß er seine mittelmäßigen Producte zu Kanons macht und auf
                   Unkosten aller anderen Geisteswerke herausstreicht, hat mich von seinem näheren Um-
                   gange zurückgehalten.
                                  12
               Schiller vergegenwärtigt hier nicht nur den Begriff des ›Kanons‹. Im gleichen
               Atemzug  betont er auch die teils emotional-unwillkürliche, teils intentionale
               Gemachtheit der Goethekanonisierung seiner Zeit. Die pejorative Tendenz in
               Schillers  Bewertung  einer  subjektiv  kanonisierenden  ›Herstellung‹  schmälert
               keinesfalls die Trefflichkeit seiner Analyse. Hellsichtig charakterisiert Schiller
               vielmehr ein wesentliches Funktionsmerkmal der (später) von Berlin ausgehen-
               den Goethebegeisterung.
                   Die  literarischen  Salons  und  schöngeistigen  Vereine  Berlins  waren  die
               ersten wirklich bedeutenden Schauplätze des Goethe-Kultes, eines geselligen
               Lebens, das von der metropolitan-aufgeklärten Struktur der Königs- und Resi-
               denzstadt lebte, und für das die räumliche Distanz zur mitteldeutsch-thüringi-
               schen Kleinstadtprovinz geradezu konstitutiv war. Abstand schafft bekanntlich
               immer zugleich Raum für Projektionen. Zudem verfestigten sich zur Zeit von
               Goethes einzigem Berlinbesuch vom 15. bis 20. Mai 1778 gewisse provinzielle
               Milieumerkmale in bestimmten Bereichen des geistigen Lebens, so z. B. inner-
               halb der vorhumboldtschen Naturwissenschaft. In gewisser Weise handelte es
               sich dabei um eine Mediokrität, wie sie in machtpolitischer oder ökonomischer
               Sicht eher für Weimar und Jena charakteristisch blieb.
                   So ragen die Berliner Naturwissenschaften zur Zeit von Goethes kühlem
               Berlinbesuch im Mai 1778 keineswegs aus der Forschungslandschaft am Ende
               des  18.  Jahrhunderts  heraus.  Und  einer  der  bedeutendsten  Berliner  Natur-
               wissenschaftler, Alexander von Humboldt (1769–1859), wird seine maßgeb-
               lichen Leistungen als Naturforscher und Entdecker auf Expeditionen fernab


               12  Schillers Werke. Nationalausgabe, hg. im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Ge-
                   denkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (etc.) von Liselotte Blument-
                   hal und Benno von Wiese. Weimar 1946ff. Bd. 25 (1979), 193, 13-19 (datiert Weimar,
                   2. Februar 1789; Hervorhebung R. C.).
   54   55   56   57   58   59   60   61   62   63   64