Page 58 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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56 Robert Charlier
vermochte den Musenhofmythos letztlich nur zu stabilisieren und verstärkte
den Klassikerstatus kontrastiv. Und zu einem Gutteil repräsentierte auch Berlin
– mit Blick auf bestimmte Akteure und nur phasenweise – ein solchermaßen
anderes Weimar. Man denke in diesem Kontext nur an die Berlin-Brandenbur-
ger Kreise um August Friedrich Ferdinand von Kotzebue oder Garlieb Mer-
kel. Auch ästhetisch-theoretische Kontrahenten Goethes wie Aloys Hirt oder
Johann Gottfried Schadow waren letztlich Geburtshelfer eines solchermaßen
hohen und hehren Goethe-Bildes.
Als Verlegerstadt verkörperte Berlin zudem im wahrsten Sinne des Wor-
tes eine Goethe-Werkstatt. Dies ganz besonders, blickt man auf die Druckge-
schichte bedeutender Werk- und Einzelausgaben des Dichters (so bei Duncker,
Humblot, Reimer, Unger oder Vieweg). Die Stadt erwies sich im Übrigen auch
als produktive Wiege der illegalen Werkreproduktion, deren Geschäft mit der
wachsenden Berühmtheit und Beliebtheit Goethes florierte (z. B. bei Christi-
an Friedrich Himburg). Außerdem war Berlin ein Ort der Künstler, die mit
Goethes Werk eng verbunden bleiben. Dabei handelt es sich zum einen um
bildende Künstler, die sich um die Illustration einzelner Werkausgaben verdient
machten (wie Daniel Nikolaus Chodowiecki, Daniel Berger oder Georg Fried-
rich Schmidt). Dazu sind aber vor allem auch die Musikerpersönlichkeiten von
Rang zu zählen, die als Komponisten Goethescher Werke und Lieder wirkten,
wie Johann Friedrich Reichardt oder Carl Friedrich Zelter. Nicht zu vergessen
Goethes enge Affinität zu den Protagonisten des Berliner Theaters wie August
Wilhelm Iffland und Karl Friedrich Moritz Paul Graf von Brühl. Allein das
Geflecht der Beziehungen des literarischen Übersetzers und Dramatikers, des
Intendanten und Regisseurs Goethe zur Berliner Theaterszene zwischen 1791
und 1816 ist so dicht und vielfältig, dass es nach eigener monografischer Wür-
digung verlangt. 11
Die zeitweise Wahlverwandtschaft zwischen Goethe und dem Berliner
Ästhetik-Professor und Reiseschriftsteller Karl Philipp Moritz als paradigma-
tisches Beispiel für eine immens produktive Wechselwirkung zwischen Berlin
und Weimar kann hier nur angedeutet werden. Als Verfasser der Abhandlung
Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788) und Theoretiker des »Kunst-
schönen« trug Moritz während der Zeit ihrer Zusammenarbeit nicht nur we-
sentlich zur Konturierung und Konstituierung der Goetheschen Ästhetik bei.
11 Vgl. Hans-Helmut Allers, Erlaubt ist, was gefällt. Der Dramatiker Goethe und seine
Beziehungen zum Berliner Theater, Berlin 2004.