Page 57 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Klassikermacher 55
Goethe und Berlin
Im Folgenden möchte ich die skizzierten Protagonisten und Prozesse der Kano-
nisierung an einigen ausgewählten Beispielen kursorisch betrachten. Wie bereits
angedeutet, gilt mein Interesse dabei einem besonderen Aspekt der Rezeptions-
geschichte Johann Wolfgang von Goethes. Zugrunde liegt die Beobachtung,
dass aus Goethes dichtem Beziehungsgeflecht zu Berlin – von der preußischen
Kapitale des 18. Jahrhunderts bis zur ersten deutschen Großstadt des frühen
19. Jahrhunderts – vitale Impulse ausgegangen sind, die dem Goethebild und
Weimarmythos zu Weltgeltung verholfen haben. Oder, wie Otto Brahm an-
lässlich der Einweihung des von Fritz Schaper geschaffenen Goethe-Denkmals
im Berliner Tiergarten im Jahr 1880 formulierte, dass Berlin der historische Ort
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gewesen sei, der Goethes »Weltstellung entdeckt« habe. In Berlin, der urbanen
Gegenwirklichkeit zur – im Sinne von Justus Möser – provinzialen Provenienz
von Weimar und Jena, besitzt diese Gruppe von Klassikermachern ihre intel-
lektuellen und publizistischen Wurzeln. In keiner anderen Stadt des deutschen
Reiches scheint der Ruhm des Dichters zwischen 1774/75 und 1832 so leben-
dig und seine Rezeption so wirkmächtig.
Berlin ist – mit Bezug auf den ersten historischen Zeitabschnitt der benann-
ten Epoche – zunächst die Stadt der Aufklärung, des geselligen Salonwesens,
und der lebendigen literarischen Öffentlichkeit und Pressevielfalt. Mit Blick auf
Goethes Werk- und Wirkungsgeschichte verkörpert Berlin dabei zunächst die
Stadt der (Anti-)Wertheriaden im Gefolge Friedrich Nicolais. Gerade im adver-
sativen Sinne sind es aber auch Berliner Publizisten und Intellektuelle, die den
Ruf ihrer Stadt als Sitz der Goethe-Feindschaft im sogenannten Xenienkampf
begründen. Allerdings sorgt auch und gerade Umstrittenheit für Reputation.
Im Falle Goethes initiierten Polemik, Klatsch und Anfechtung den Prozess der
Klassikerwerdung geradezu modellhaft. Die Erkundung der Weimarer Goethe-
kritik belegt, dass Invektiven und Intrigen den Ruhm des Olympiers und Di-
oskuren (an der Seite Schillers) nur vermehrten. Auch das dissidente Weimar
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9 »Berlin hat Goethe’s Weltstellung entdeckt. Berlin zuerst hat nach der Wendung des
Dichters zum Klassizismus hin ihm die Anerkennung größerer Massen eingebracht.«
(Otto Brahm, Goethe und Berlin. Festschrift zur Enthüllung des Berliner Goethe-
Denkmals, Berlin 1880, 9).
10 Vgl. Konrad Kratzsch, Klatschnest Weimar. Ernstes und Heiteres, Menschlich-Allzu-
menschliches aus dem Alltag der Klassiker, 2., bearbeitete Aufl., Würzburg 2003 (zuerst
2002).