Page 56 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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54                        Robert Charlier

                 Werk-  und  Wirkungskomplexes  zum  repräsentativen  Teil  eines  kulturellen
                 Kontinuums. Auf jeder Stufe der Entwicklung sind objektive und projektive
                 Faktoren so eng miteinander verwoben, dass neben dem Werk im engeren Sinne
                 polykausal und meta-intentional gesprochen von Wirkungskomplex die Rede ist.
                 Denn innerhalb der klassischen Kanonisierung eines Autors oder einer künst-
                 lerischen Lebensleistung konstituieren gerade die uneigentlichen, peripheren
                 Lebens- und Werkzeugnisse wie Aufzeichnungen und Meinungen von Zeitzeu-
                 gen, Anekdoten zu Person oder Werk und – wie in Goethes Fall – überlieferte
                 oder wiedergegebene Gespräche in substanzieller Weise den Klassikermythos.
                 Man könnte auch umgekehrt sagen: Es bleibt letztlich unauflösbar, inwieweit
                 die Fülle und der farbige Facettenreichtum dieser Wirkungen eine Ursache oder
                 Folge der Klassikerwerdung darstellen. In welchem Maße sich in diesem Prozess
                 historisch kontingente und – mentalitäts- oder ideologieschichtlich betrachtet –
                 inkontingente Einflüsse überlagern und vermengen, bleibt letztlich offen. Denn
                 vom ersten Glied der Rezeptionskette an wird das Werk des Klassikeraspiranten
                 produktiv überlagert mit mentalen, ideologischen, aber auch philologischen
                 oder politischen Projektionen. Zudem bleibt diese Werkrezeption stets medi-
                 alen (und damit auch materiellen) Bedingungen verhaftet. So unterliegt die
                 literarische Werkgeschichte z. B. bestimmten ökonomischen Publikationsstra-
                 tegien  oder  editorischen  Methoden  wie  Selektion  oder  Sammlung  im  Rah-
                 men von Werk- oder Teilausgaben, Anthologien, Almanachen, Kalendern und
                 schließlich, am Ende der Kette, in Schulbüchern, Wörterbüchern oder Konver-
                 sationslexika. Damit diese Rezeptionskette zu einer im literaturgeschichtlichen
                 Sinne epochalen Kanonisierung führt, bedarf es vieler Vermittlerinstanzen, die
                                                                            8
                 eine Erwählung des Dichters und seines Werkes anstoßen und ausführen.












                 8   Vgl. z. B. Christoph Bode, Kanonisierung durch Anthologisierung. Das Beispiel der eng-
                    lischen Romantik, in: Gerhard R. Kaiser, Stefan Matuschek (Hg.), Begründungen und
                    Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literatur- und Kunstwissenschaft, Philosophie
                    und Theologie (Jenaer Germanistische Forschungen, Neue Folge; 9). Heidelberg 2001,
                    89-105.
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