Page 55 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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allgemeinen Evolutionstheorie. So adaptiert die erziehungswissenschaftliche
Klassikerforschung beispielsweise die Termini Selektion, Variation, Reprodukti-
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on/Replikation und Stabilisierung. Umgekehrt orientiert sich z. B. die naturwis-
senschaftliche Kognitionsforschung an kulturbasierten Mechanismen semanti-
scher Kanonisierung in der menschlichen Wahrnehmung. 6
Kanonildung und Klassikergenese
Literarische Kanonbildung vollzieht sich auf höchst komplexe Weise. Ohne die
systemische Vielschichtigkeit und hermeneutische Dynamik dieses Prozesses in
der Beschränkung des gegebenen Rahmens erschöpfend ausleuchten zu kön-
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nen, sei lediglich die folgende Schematisierung erlaubt. Auf eine in der Regel
datierbare Phase der materiellen, psychosozialen, geistigen und künstlerischen
Prägung eines Individuums oder einer Gruppe von Individuen folgt zumeist
eine Phase der Propagierung des protoklassischen Autors oder Dichters durch
seine Leser, Bewunderer und Exegeten. Das führt im besten Fall zu einer bis
in die jeweilige Gegenwart und darüber hinaus reichenden überindividuellen
und überzeitlichen Rezeptionsgeschichte. Die Kanonisierung vollzieht sich
also zunächst als komplexer und kontingenter Inspirationsprozess eines oder
einer kleineren Zahl von Individuen, der sich in einer singulären Qualität und
Quantität künstlerischer oder literarischer Schöpfungen manifestiert. In einem
weiteren Schritt kommt es zur Transformation des vereinzelten künstlerischen
5 Zur Anwendung evolutiver Konzepte im Entwurf einer ›Klassikertheorie‹ aus sozialwis-
senschaftlicher Perspektive vgl. Alfred K. Treml: Klassiker. Die Evolution einflußreicher
Semantik (wie Anm. 1). Bd. 1: Theorie. Sankt Augustin 1997, 27-33 (»Variation«), 33-42
(»Selektion«) und 42-49 (»Reproduktion« bzw. »Stabilisierung«). Siehe dazu auch den
Beitrag im Folgenden S. 143ff.
6 Nach Aussagen des Biophysikers Christof Koch vom California Institute of Techno-
logy in Pasadena belegen Messungen der menschlichen Hirnaktivität, dass bei der
Erkennung prominenter Persönlichkeiten anhand von vorgelegten Bildern stets ganz
bestimmte Hirnareale der Probanden aktiv sind (vgl. deutsches Abstract des Vortrages
»Die Entschlüsselung von Bewusstseinsinhalten an einzelnen Neuronen im menschli-
chen Gehirn« von Christof Koch, gehalten im Rahmen des 11. Berliner Kolloquiums
»Gedankenforscher« der Gottlieb Daimler- und Karl- Benz Stiftung am 9. Mai 2007,
21f.).
7 Im Folgenden auch referiert unter (wörtlichem) Rückgriff auf Charlier, Der Berliner
Mythos von Weimar (wie Anm. 1), 394-398 (»Paradigmen der Klassikerwerdung« und:
»Kam Weimar in Berlin zu Welt?«).