Page 54 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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text kultureller Krisen, in denen bestehende Traditionen gleichsam von unten
in Frage gestellt werden. Seine Berechtigung hat dies von den theologischen
Kanonkontroversen um die biblischen Bücher bis zu den amerikanischen Bil-
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dungsdebatten, den jüngeren »Kanonkriegen« der 1980er und 90er Jahre.
Betrachtet man die Kanontheorie aus einer übergeordneten Perspektive,
so lässt sich die Phänomenologie von semantischen Auswahl- und Zuschrei-
bungsprozessen nicht nur mit den Deutungsmustern der Geistes- und Sozial-
wissenschaften beschreiben. Auch aus naturwissenschaftlicher Sicht ergeben
sich bemerkenswerte Aspekte. Literarische und epistemische Kanonbildungen
kann man nämlich auch als kulturelle Parallelen zu kognitiven oder neurophy-
siologischen Selektionsvorgängen verstehen, wie sie die biologische Natur des
Menschen prägen. Definitorisch zu unterscheiden wäre dann wie folgt: Kano-
nisierung bedeutet 1. Kanonbildung im kulturellen Sinne und 2. kognitive Prio-
ritätensetzung, wie sie für die Wahrnehmung und die Entscheidung/Reaktion
bzw. das Handeln/Verhalten höherer Lebewesen bestimmend ist.
Zu (1). Das kulturelle Kanonprinzip ist in der globalisierten Informati-
ons- und Mediengesellschaft des 21. Jahrhunderts in den vielfältigsten Formen
und Funktionen gegenwärtig. Tradierte Kanonformen, wie sie Klassikerausga-
ben oder akademische Lektürelisten darstellen, stehen heute neben technischen
Agenten der Kanonisierung, darunter vor allem die Suchmaschinen mit ihren
mathematisch-semantischen Prozeduren, sogenannten (algorithmischen) Ran-
kings.
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Zu (2). Die Übertragung des Kanonisierungsprinzips in den Bereich der
Naturwissenschaften lässt sich sehr gut an die sozialwissenschaftliche Theorie-
bildung anschließen. Methodisch vermittelt sie nämlich noch am ehesten zwi-
schen geistes- und naturwissenschaflicher Sichtweise. Systemtheoretisch inspi-
rierte Ansätze, speziell aus der ideengeschichtlich arbeitenden Erziehungswis-
senschaft, argumentieren mit begrifflichen Entlehnungen aus der sogenannten
3 Vgl. z. B. Erk Grimm: »Bloom’s Battles«, in: Heinz-Ludwig Arnold (Hg.), Literarische
Kanonbildung (Text und Kritik: Zeitschrift für Literatur; Sonderband), München 2002,
39-54; E. Grimm bezieht sich dabei u. a. auf folgende Schriften: Robert von Hallberg
(ed.), Canons, Chicago 1984; Jan Gorak, The Making of the Modern Canon. Genesis and
Crisis of a Literary Idea, London 1991; Harold Bloom, The Western Canon: The Books
and School of the Ages, New York; San Diego; London 1994.
4 Vgl. Robert Charlier, Google statt Goethe? Kanonbildung im Zeitalter der Globalisie-
rung, in: Ingwer Paul, Winfried Thielmann, Fritz Tangermann (Hg.), Standard: Bil-
dung. Blinde Flecken der deutschen Bildungsdiskussion, Göttingen 2008, 15-29.