Page 53 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Klassikermacher 51
Robert Charlier
Klassikermacher
Goethes Berliner ›Agenten‹ der literarischen Kanonbildung
Die überzeitliche Verinnerlichung von mustergültigen Autoren, Denkern oder
Künstlern und ihren Werken im kulturellen Gedächtnis ist ein vielschichti-
ger Prozess. Schon die Begriffswahl ›Kanonbildung‹ verlebendigt das Problem:
Handelt es sich um eine Herausbildung im Sinne einer kontingenten Entste-
hung, die sich nicht auf eine eingrenzbare Menge von Bedingungen wie subjek-
tive Absichten oder produktive Kausalitäten der Rezeption zurückführen lässt?
Oder sind kanonisierte Autoren und Werke umgekehrt das Ergebnis fixierbarer
ästhetischer Bewertungen oder literatur- und bildungspolitischer Entscheidun-
gen – geht es also um eine subjektive bzw. intersubjektive Herstellung? In letzte-
rem Fall würden Dichter oder Denker von ihren Verehrern, Literaturkritikern,
akademischen oder medialen Instititutionen zu Klassikern gemacht. Wogegen
Kanonisierungen im ersten Falle vielmehr als ein Produkt zufälliger, überindivi-
dueller und überinstitutioneller, sprich: meta-intentionaler Faktoren anzusehen
wären. 1
Die vergleichsweise junge Kanontheorie betont vor allem zwei Aspekte der
Kanonformation. Zum einen wirkt die Fixierung von Kanons identitätsstiftend
bei der Selbst- und Fremdvergewisserung von Sprach- und Kulturgemeinschaf-
ten. Außerdem begleitet sie die Entstehung von Imperien, Staaten und Na-
2
tionen. Einer anderen Auffassung nach stehen Kanondebatten stets im Kon-
1 Vgl. Robert Charlier, Der Berliner Mythos von Weimar. Aus der Werkstatt der Berliner
Klassikermacher des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Iwan D’Aprile, Martin Disselkamp
und Claudia Sedlarz (Hg.), Tableau de Berlin. Beiträge zur »Berliner Klassik 1786–1815«
(Berliner Klassik. Eine Großstadtkultur um 1800; 10), Hannover-Laatzen 2005, 393-
407; Robert Charlier, Die Muse von Weimar. Vom Philosophenhof zur Musenstadt der
deutschen Klassik, in: Günther Lottes, Iwan D’Aprile (Hg.), Zwischen Hofkultur und
aufgeklärter Öffentlichkeit. Potsdam im 18. Jahrhundert im europäischen Kontext, Ber-
lin 2006, 169-186 – Alfred K. Treml, Klassiker. Die Evolution einflußreicher Semantik,
2 Bde. (1: Theorie; 2: Einzelstudien), St. Augustin 1997/99.
2 Vgl. Aleida und Jan Assmann (Hg.), Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der
literarischen Kommunikation II, München 1987.