Page 52 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
P. 52

50                       Theodore Ziolkowski

                 die Werke des »Dioskurenpaares« allmählich in die Schullektüre aufgenommen
                 und gehörten bald zum geistigen Gut des deutschen Bildungsbürgertums. Wie
                 Hans Robert Jauß präzisiert: »Klassik ist von Haus aus eine retrospektive Kate-
                                                          69
                 gorie literar- und kunsthistorischer Kanonbildung.«  Wenn hier das Phänomen
                 Weimarer Klassik bereits existierte, wenn auch noch ohne die Bezeichnung, be-
                 gann bereits acht Jahre später mit Wilhelm Diltheys Antrittsvorlesung über »Die
                 dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770–1800« diese
                                                                   70
                 engere Auffassung der Zweimann-Klassik aufgelöst zu werden  – ein Prozess,
                 der durch die Geistesgeschichte des nächsten Jahrhunderts zu der breiten Auf-
                 fassung einer »Goethezeit« führte und zu dem bekannten Kanon, der wiederum
                 am Ende des 20. Jahrhunderts aufgelöst wird.
                    So wurden im Laufe eines halben Jahrhunderts durch die Historisierung
                 des  öffentlichen  Bewusstseins  erstmals  die  Voraussetzungen  zunächst  einer
                 deutschen und dann einer nationalen Literaturgeschichte Deutschlands geschaf-
                 fen. Während derselben Periode wurde unabhängig voneinander und dank ih-
                 rer verschiedenen Koterien der Ruf Goethes und Schillers sorgfältig kultiviert,
                 bis es nach dem Tode beider möglich war, in ihrem Jenenser und Weimarer
                 Zusammenwirken von 1794 bis 1805 den Höhepunkt der neueren deutschen
                 Literatur zu erblicken, die beiden in die Geschichten der deutschen Literatur als
                 deren Kulmination einzubauen und die einstmaligen ›Kanons von unten‹ jetzt
                 durch Schule und Bildungsbürgertum behördlich und gesellschaftlich in einen
                 vereinten ›Kanon von oben‹ zu verwandeln – ein völlig zeitgemäßes hegelsches
                 Manöver, wodurch die Gegensätze dialektisch synthetisiert werden konnten.
                 Aus den Einzelgängern Goethe und Schiller wurde die deutsche Klassik – ein
                 Gedanke, den Nietzsche maliziöser ausdrückte: »Scheint es doch fast, als ob
                 man eben nur 30 Jahre lang tot zu sein und als erlaubte Beute öffentlich dazu-
                 liegen brauche, um unversehens plötzlich als Klassiker die Trompete der Auf-
                 erstehung zu hören.«  Aber auch wenn Schiller und Goethe bereits Mitte des
                                  71
                 19. Jahrhunderts – und zwar meistens in dieser Rangordnung – als Kern der
                 deutschen Klassik galten, konnte die eigentliche Kanonisierung einer Weimarer
                 Klassik erst nach 1970 stattfinden – das heisst, erst nachdem die bisher unge-
                 wöhnlichen Begriffe wieder aus vor allem politischen Gründen ins Zentrum des
                 literaturgeschichtlichen Diskurses geholt wurden.

                 69   Hans Robert Jauß, Deutsche Klassik – Eine Pseudo-Epoche? In: Herzog/Koselleck, Epochen-
                    schwelle (wie Anm. 24), 581-85; hier 581.
                 70   Mandelkow, Goethe in Deutschland (wie Anm. 62), 136.
                 71   Nietzsche, Werke (wie Anm. 28), Bd. 1, 927.
   47   48   49   50   51   52   53   54   55   56   57