Page 50 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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48                       Theodore Ziolkowski

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                 Klassik.  Die Zeitgenossen hatten dazu geneigt, Differenzen zwischen den bei-
                 den Dichtern eher als ihre Gemeinsamkeiten zu betonen: Goethe den Realisten
                 versus Schiller den Idealisten, den Dichter versus den Denker, Natur versus Ge-
                 schichte, Lyrik versus Dramatik, Experiment versus Spekulation, Symbol versus
                 Allegorie und wie die verschiedenen von Literaturwissenschaftlern erklügelten
                 Dichotomien sonst alle heißen mögen – Gegensätze, die bereits Schiller in sei-
                 ner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung vorweggenommen
                 hatte. Die Opposition wurde vor allem von Goethe-Gegnern wie dem Pfarrer
                 Pustkuchen ausgenützt, der in seinem fünfbändigen Machwerk Wilhelm Mei-
                 sters Wanderjahre (1821–28) Goethe gegen Schiller ausspielt, oder dem Goethe-
                 Feind Wolfgang Menzel.
                   Erst in den 1830er Jahren begannen einige liberale Kritiker die vermeint-
                 liche Trennung zu überwinden und Goethe und Schiller als gleichberechtigte
                 Repräsentanten des Höchsten in der deutschen Literatur zu feiern. In seinem
                 kurz nach Goethes Tod verfassten Werk, Die romantische Schule (1833), verwarf
                 Heinrich Heine »die Manie, die Produkte beider Dichter zu vergleichen«, sowie
                 die allzu häufige Meinung, dass Schiller wegen seiner »sittlichen Herrlichkeit«
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                 größer  sei  als  Goethe,   und  bot  stattdessen  kritisch  balancierte  Wertungen
                 Goethes und Schillers:
                    Die Goetheaner ließen sich dadurch verleiten, die Kunst selbst als das Höchste zu pro-
                    klamieren und von den Aussprüchen jener ersten wirklichen Welt, welcher doch der
                    Vorrang gebührt, sich abzuwenden. Schiller hat sich jener ersten Welt viel bestimmter
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                    angeschlossen als Goethe, und wir müssen ihn in dieser Hinsicht loben.
                 Aber wir hören noch nichts von Klassik oder Weimar oder einer Paarung der
                 beiden. Das Bindewort ›und‹ ließ noch lange auf sich warten. Dann bot der
                 Historiker  Gervinus  1835  im  letzten  Band  seiner  Geschichte  der  poetischen
                 National-Literatur der Deutschen (1835–1842) ein Kapitel mit der Überschrift
                 »Schiller und Goethe«. (Uns fällt heute die Rangordnung der Namen auf, die
                 auf die Prioritäten des liberalen Verfassers hinweist.) Hier sowie in dem knap-
                 pen Handbuch, das er gleich danach verfertigte, widmete er neben Abschnit-
                 ten über Schiller und Goethe auch dem »Zusammenwirken« der beiden ei-
                 nen Abschnitt als »das Glänzendste, was die Blüthezeit von Weimar darbieten


                 62   Vgl. Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers,
                    Bd. 1: 1773–1918, München 1980, 120-125. Mandelkow spricht von der »Klassik als Synthese
                    von Polaritäten«.
                 63   Heinrich Heine, Sämtliche Werke, hg. v. Ernst Elster, Bd. 5, Leipzig; Wien o. J., 250.
                 64   Ebd., 252.
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