Page 49 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Zur Politik der Kanonbildung 47
hinausgestellt, ihn für den höchsten, den einzigen Dichter erklärt, ihn als ihren Ge-
währsmann und Bestätiger in allen Einsichten und Urteilen des Lebens enthusiastisch
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angepriesen.«
Als Varnhagen im Sommer 1832 diese Zeilen schrieb, so fährt er fort, war es
leicht und natürlich, Goethes Eminenz zu bejahen. Aber in der Periode, die er
beschreibt – 1808 – war Goethe nur noch einer »in der Menge der Schriftstel-
ler«, von denen manch anderer viel geschätzt war. »Die Liebe und Verehrung
für Goethe war durch Rahel im Kreise ihrer Freunde längst zu einer Art von
Kultus gediehen.« Die hohe Zeit ihres Goethe-Kults datiert eigentlich aus der
Zeit ihres zweitens Berliner Salons (1819–1833) und wurde durch den Band
Goethe in den Zeugnissen der Mitlebenden katalysiert, den Varnhagen 1823 in
der Hoffnung herausgab: »Nachdem auf diese Weise ein Anfang gemacht ist,
wird sich nun leicht zu größerem Gewinne fortschreiten lassen.« 59
Goethe-Freunde in Frankfurt hatten bereits 1819 die Errichtung eines Denk-
mals überlegt, aber Goethes nationales Ansehen war noch zu gering, als dass er
sich zum Gegenstand eines Nationaldenkmals eignete, und die Spenden reichten
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höchstens für einige Kisten edler Weine, die dem Dichter beschert wurden. Im
Laufe der Jahre entstanden verschiedene Modelle für das künftige Denkmal –
neben Bettine von Arnim, Verfasserin des Briefromans Goethes Briefwechsel mit
einem Kinde (1835), machte auch Thorvaldsen, Bildhauer des Schiller-Denk-
mals, Vorschläge – aber das heute bekannte Goethe-Denkmal in Frankfurt wurde
schließlich von Schwanthaler vollendet und 1844 enthüllt. Erst nach den Feiern
zu seinem 100. Geburtstag 1849 bildeten sich langsam vereinzelte Goethe-Ver-
eine in Deutschland. Goethes Popularität blieb immerhin noch so gering, dass
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kein weiteres Denkmal bis nach der Reichsgründung 1871 ausgeführt wurde.
Es ist auffallend, dass ausgerechnet das von Hegel gebildete jungdeutsche
Zeitalter diese völlig verschiedenartigen Bilder von Goethe und Schiller, die
aus ihren Kulten und Koterien entstanden, durch ein hegelsches Manöver dia-
lektisch synthetisierte: aus den Gegensätzen wurde die deutsche bzw. Weimarer
58 Karl August Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten des eignen Lebens, hg. v. Konrad Feil-
chenfeldt, Bd. 1, Frankfurt am Main 1897, 530. Die betreffende Stelle erschien zuerst in
Varnhagens Einleitung in: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde, Berlin 1834,
21-22.
59 Goethe in den Zeugnissen der Mitlebenden, Beilage zu allen Ausgaben von Goethe´s Werken.
Erste Sammlung: Zum 28. August 1823, Berlin 1823, III.
60 Rolf Selbmann, Dichterdenkmäler in Deutschland. Literaturgeschichte in Erz und Stein,
Stuttgart 1988, 72.
61 Manger, ›Klassik‹ (wie Anm. 15), 283.