Page 48 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Fragment dessen Meister-Roman als eine der größten Tendenzen des Zeitalters
bezeichnet. Auch in Berlin gab es trotz Ablehnung unter den Aufklärern eine
Verehrung, die sich manchmal bis ins Kultische steigerte. In Henriette Herz’
vielbesuchtem Salon, wo Rationalisten und Romantiker zusammenkamen, war
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Goethe ein lebendiger, wenn auch kontroverser Gesprächsgegenstand. Dane-
ben gab es einen zweiten Versammlungsort für Goethe-Verehrer: die Berliner
Singakademie und Liedertafel, deren Leiter, Karl Friedrich Zelter, 1802 bei ei-
nem Besuch in Weimar Goethe kennenlernte und zum einzigen Duzfreund
seiner späteren Jahre wurde. Zelter berichtete Goethe regelmäßig von Auffüh-
rungen seiner Vertonungen von dessen Gedichten, wobei im Publikum der
Singakademie auch eine gewisse Goethe-Gemeinde zustande kam. Im Sommer
1833 – also nach dem Tod der beiden Freunde – versammelten sich die Mit-
glieder der »Berliner Mittwochsgesellschaft« – Eichendorff, Fouqué, Chamisso
und Varnhagen unter anderen – um der Verstorbenen zu gedenken. In Wilhelm
Neumanns poetischem Nachruf werden beide gemeinsam genannt:
So hast du, Goethe, Glücklichster der Toten,
Der Freunde reiche Schar um dich vereint;
Schon grüßt auch Zelter dich, doch nicht durch Boten;
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Der stirbt dir lieber nach, als daß er weint.
Zuständig für den Goethe-Kult in Berlin ist vor allem Rahel Varnhagen von
Ense, die ihr Mann als die »Priesterin Goethes« bezeichnete. Die 24-jährige
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Schwärmerin traf Goethe zum ersten Mal 1795 in Karlsbad und bat einige Wo-
chen später einen Bekannten in Jena, Goethe zu grüßen »von dem Menschen,
der ihn immer angebetet, vergöttert hätte, auch wenn ihn niemand rühmte,
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verstände, bewunderte.« In seinen Denkwürdigkeiten betont ihr Mann ihre
Goethe-Begeisterung:
»Schon sehr früh, weit früher, als irgend eine literarische Meinung der Art sich gebil-
det hatte, war Rahel von Goethe’s Außerordentlichkeit getroffen, von der Macht sei-
nes Genius eingenommen und bezaubert worden, hatte ihn über jede Vergleichung
54 Wilfried Barner, Von Rahel Varnhagen bis Friedrich Gundolf. Juden als deutsche Goethe-Vereh-
rer, Kleine Schriften zur Aufklärung, Bd. 3, Wolfenbüttel 1992, 12.
55 Herbert Scurla, Begegnungen mit Rahel. Der Salon der Rahel Levin, 4. Aufl., Berlin 1966,
353.
56 Zu Rahels Goethe-Kult, ebd., 353-407; hier 353.
57 Brief an David Veit und Horn in Jena vom 8. September 1795, in: Rahel Varnhagen, Brief-
wechsel, hg. v. Friedhelm Kemp, Bd. 3, München 1979, 72.