Page 47 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Zur Politik der Kanonbildung           45

               der patriotischen Begeisterung erhoben. Nach den Freiheitskriegen und der in-
               tensiven Ausnutzung seiner Popularität für nationalpolitische Zwecke trat aber
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               eine »Schillermüdigkeit«  ein, wobei auch die Zahlen der Aufführungen seiner
               Stücke radikal abfielen. Erst in den 1820er Jahren begann sich sein Ruf wieder zu
               erholen – nicht in Weimar, sondern durch die Tätigkeit der Koterien in seinem
               Heimatland. 1824 wurde in Stuttgart der Gesangverein »Liederkranz« gegrün-
               det, aus dem 1826 der Stuttgarter Schillerverein hervorging. Bereits 1825 fand
               dort zu seinem 20. Todestag ein öffentliches Schillerfest statt, und  dieser lokale
               Verein rief bald in ganz Deutschland zu Spenden für ein Schiller-Denkmal auf,
               das ein nationales Denkmal sein sollte. Als das Denkmal von Thorvaldsen 1839
               fertiggestellt und enthüllt wurde, war diese württembergisch-regionale Schiller-
               verehrung bereits national geworden. Es kamen 44 Liederkränze aus anderen
               deutschen Städten, um das Fest mitzufeiern.
                  So viel nationale Gruppentätigkeit vor allem in den Revolutionsjahren um
               1830 und 1848 erregte bald das Interesse der Behörden – zum Teil, weil jung-
               deutsche Publizisten wie Wolfgang Menzel Schiller als Freiheitsdichter gerne
               gegen den »Fürstenknecht« Goethe ausspielten – und die Schillervereine mus-
               sten eine Zeitlang gegen Zensur und Verbot kämpfen. Erst 1855 nach den
               Feiern zu Schillers 50. Todestag flammte die Begeisterung wieder auf. Schiller
               war nunmehr in die Hände von Bewunderern geraten, die laut Nietzsche »nicht
               den Mut haben, vom Denker und Schriftsteller Schiller gering zu denken.«
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               Aus Österreich wird 1859 sogar die Vermutung laut, dass man bei den Schil-
               lerfeiern »noch etwas anderes feiern [wollte] als Schiller den ausgezeichneten
               Dichter und Schriftsteller: etwa das deutsche Bewußtsein, die deutsche Einheit,
               die Kraft- und Machtstellung Deutschlands.«  Die Schillerverehrung wurde
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               bald danach, wie wir sehen werden, mit dem Goethe-Kult vereinigt.
                  Ganz anders als bei Schiller blieb die Goetheverehrung anfänglich eine An-
               gelegenheit für vereinzelte Kulte – zum Teil weil sich Goethe nach Schillers Tod
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               mehr und mehr von dem literarischen Leben in Deutschland distanzierte.  Im
               nahegelegenen Jena war die Goethe-Hochachtung eine Grundüberzeugung der
               jungen Romantiker. Friedrich Schlegel hatte in dem bekannten Athenaeum-

               50   Oellers, Schiller (wie Anm. 49), 130.
               51   Nietzsche, Werke (wie Anm. 28), Bd. 1, 926.
               52   Franz Grillparzer, [Erwiderung gegen das Abendblatt der ›Presse‹ vom 9. November 1859], in:
                   ders., Sämtliche Werke, hg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher, Bd. 3, München 1963, 764.
               53   Gonthier-Louis Fink, Weltbürgertum und Weltliteratur. Goethes Antwort auf den revolutio-
                   nären Messianismus und die nationalen Eingrenzungstendenzen seiner Zeit, in: Klaus Manger
                   (Hg.), Goethe und die Weltkultur, Heidelberg 2003, 173-225.
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