Page 46 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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44                       Theodore Ziolkowski

                   Der Begriff einer Weimarer Klassik konnte erst in dem Augenblick entste-
                 hen, als man die verschiedenen Weimarer Gestalten als Gruppe oder Einheit zu
                 betrachten begann. Aber das war lange nicht der Fall – nicht einmal unter den
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                 Prinzipalen.  Die Freundschaft zwischen Goethe und Schiller kam bekanntlich
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                 erst spät zustande und blieb problematisch.  Mit einer gewissen Übertreibung
                 könnte man sogar meinen, das Verhältnis sei eine Erfindung der späten Jahre,
                 als Goethe 1817 im Rückblick an das »Glückliche Ereignis« ihrer Begegnung
                 im Jahr 1794 zurückdachte. In seinen Memoiren betont Goethe wiederholt
                 »die ungeheuere Kluft zwischen unsern Denkweisen« und die abweichenden
                 »Lebensmethoden« der beiden, bei denen anfänglich »an keine Vereinigung zu
                 denken« war.  Erst um 1826 konzipierte Goethe das (nie ausgeführte) Projekt
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                 für ein Monument all’antica, das die letzte Ruhestätte der beiden Dichter mar-
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                 kieren sollte  – um die Zeit nämlich, als er über die Rolle der deutschen Dich-
                 tung innerhalb einer größeren Weltliteratur ernstlich nachzudenken begann.
                   Bis zu Goethes Tod hatte man die beiden Dichter eher als autonome und
                 meistens entgegengesetzte Gestalten betrachtet, deren respektive Rezeption in
                 maßgebenden Geschichten ausführlich beschrieben worden ist. Bereits zu sei-
                 nen Lebzeiten wurde Schiller von der Jugend Deutschlands überschwänglich
                 gefeiert und zugleich von seinen aufklärerischen und romantischen Kritikern
                 getadelt. So lesen wir etwa von einer Episode in Jena 1799 beim Mittagstisch
                 der jungen Romantiker, wo der ganze Kreis beim Vorlesen von Schillers Lied
                 von der Glocke »fast von den Stühlen gefallen [ist] vor Lachen«,  wonach Au-
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                 gust Wilhelm drei kleine Parodien über dasselbe Gedicht schrieb. Diese Angrif-
                 fe hörten aber bald wieder auf, denn Schillers früher Tod 1805 wurde von einer
                 allgemeinen Trauer mit poetischen Totenklagen und Gedächtnisfeiern beglei-
                 tet.  Während der napoleonischen Herrschaft wurde er öffentlich zum Symbol
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                 44   Jürgen Föhrmann, ›Wir besprächen uns in bequemen Stunden...‹. Zum Goethe-Schiller-
                    Verhältnis und seiner Rezeption im 19. Jahrhundert, in: Voßkamp (Hg.), Klassik im Ver-
                    gleich (wie Anm. 9), 570-593.
                 45   Gesa von Essen, »eine Annäherung, die nicht erfolgte«? Die schwierigen Anfänge eines Dichter-
                    bundes, in: Goethe-Jahrbuch 122 (2005), 43-61.
                 46   Glückliches Ereignis, in: Goethes Werke (wie Anm. 8), Bd. 10, 538-543; hier 540 und 543.
                 47   Andreas Beyer, »Wir sind keine Griechen mehr.« Goethe und Schiller als Denkmal in Weimar,
                    in: Goethe-Jahrbuch 122 (2005), 26-42.
                 48   Caroline an Auguste Böhmer, 21. Okt. 1799, in: Caroline Schlegel, Briefe aus der Frühro-
                    mantik, hg. v. Erich Schmidt, Bd. 1, Leipzig 1913, 570.
                 49   Zu diesem Absatz vgl. vor allem Norbert Oellers, Schiller. Geschichte seiner Wirkung bis
                    zu Goethes Tod, 1805–1832, Bonn 1967; Rainer Noltenius, Dichterfeiern in Deutschland.
                    Rezeptionsgeschichte als Sozialgeschichte am Beispiel der Schiller- und Freiligrath-Feiern,
                    München 1984, 71-181.
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