Page 45 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Zur Politik der Kanonbildung           43

               zusammengestellten »Kanon« von Werken zu bezeichnen, die jetzt aus ideologi-
               scher – das heißt, feministischer, sozialistischer, postkolonialer, multikultureller
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               – Opposition abgetan wurden.  Man ist geneigt, mit der Meinung des Hi-
               storikers des Begriffs übereinzustimmen, dass »der Kanon« letzten Endes eine
               Fiktion oder eine Mythe sei, womit zeitgenössische Kritiker aus ideologischen
               Gründen die Opposition herabsetzen wollen. 42
                  Es verwundert kaum, dass eher konservativ eingestellte Kritiker in beiden
               Ländern bald darauf reagierten: 2006 hat Marcel Reich-Ranicki seine 50-bändi-
               ge Anthologie der deutschen Literatur unter dem kollektiven Titel Der Kanon.
               Die deutsche Literatur abgeschlossen. Zwölf Jahre früher betitelte der amerikani-
               sche Kritiker Harold Bloom seine kommentierte Liste der Weltliteratur The We-
               stern Canon: The Books and School of the Ages (1994). Seitdem gibt es in beiden
               Ländern eine unübersichtliche Bibliothek von Aufsätzen, Sammelbänden und
               Monografien zur Debatte, die zum Bestandteil der Kulturkriege geworden sind.
               Aber hier wieder bestehen wie im Fall der ›Weimarer Klassik‹ keine literatur-
               wissenschaftlich-ästhetischen, sondern eher politisch-ideologische Gründe für
               die Ablehnung der einen Bezeichnung zugunsten eines neuen dekonstruierten,
               feministischen, postkolonialen Anti-Kanons.
                  In ihrer Einleitung zum Band Kanon und Zensur unterscheiden Aleida und
               Jan Assmann zwischen dem Kanon im üblichen Sinn des Wortes, der als Aus-
               druck einer zentralisierten Herrschaftsform von oben auferlegt wird, und einem
               »Kanon von unten«, der »nicht an eine Institution, sondern an eine Person
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               (oder gegebenenfalls auch an eine Situation) gebunden ist«.  Solch ein Kanon,
               der mit dem Charisma eines Individuums zusammenhängt und meistens inner-
               halb einer kleinen Gemeinde entsteht, bevor er allgemein verbreitet wird, lässt
               sich bekanntlich durch die Kanonisierung der neutestamentlichen Schriften il-
               lustrieren. Aber er kann genauso gut durch den Prozess illustriert werden, der
               zur Kanonisierung der Weimarer Klassik führte.


               41   Canons, hg. v. Robert von Hallberg, Chicago 1984; vgl. allerdings auch Walter Erhart, Ka-
                   nonisierungsbedarf und Kanonisierung in der deutschen Literaturwissenschaft (1945–1995), in:
                   Renate von Heydebrand (Hg.), Kanon, Macht, Kultur. Theoretische, historische und soziale
                   Aspekte ästhetischer Kanonbildung, Stuttgart 1998, 97-121. Erhart sieht einen dezidierten
                   Unterschied zwischen den Entwicklungen in Deutschland und den »canon wars« in den
                   USA.
               42   Gorak, Making of the Modern Canon (wie Anm. 36), 87.
               43   Aleida und Jan Assmann, Kanon und Zensur als kultursoziologische Kategorien, in: Aleida
                   und Jan Assmann (Hg.), Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen
                   Kommunikation II, München 1987, 7-27; hier 22-23.
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