Page 44 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
P. 44

42                       Theodore Ziolkowski

                                                                 36
                 Prolegomena ad Homerum (1795) widmete – zugesprochen.  In den Wörter-
                 büchern der modernen Sprachen – wie etwa in Samuel Johnsons Dictionary of
                 the English Language (1755) oder Johann Christoph Adelungs Grammatisch-
                 kritischem Wörterbuch (1774–86) – kommt die Vokabel nicht vor. Auch die frü-
                 he Verwendung hatte noch nicht die heute geläufige Bedeutung im Sinne einer
                 Liste von Standardwerken. Am 30. November 1797 schrieb etwa Novalis an
                 August Wilhelm Schlegel, »Ihr Shakespear ist ein trefflicher Canon für den wis-
                                       37
                 senschaftlichen Beobachter«  – mit anderen Worten, ein kritischer Maßstab.
                 Im selben Sinn schreibt Schiller am 27. Juni 1798 an Wilhelm von Humboldt,
                                                    38
                 dass Homer »der Canon für alle Epopee ist.«  Im 19. Jahrhundert kommt das
                 Wort vornehmlich unter klassischen Philologen vor, so etwa in Nietzsches Hin-
                                                          39
                 weis auf einen »Kanon der monumentalen Kunst«.  Sonst aber wird das Wort
                 auffallend selten verwendet. Im Deutschen Wörterbuch der Grimms wird es 1873
                 immer noch nicht angeführt. Auch im 20. Jahrhundert, als das Wort bereits
                 das Phänomen »Kanon« im heutigen Sinne meint – das heißt, um eine Liste
                 von kritisch maßgebenden Werken der Kunst, der Musik oder der Literatur –
                 wird die Vokabel selten gebraucht. Mit einer gewissen Übertreibung könnte
                 man behaupten, das Wort trage vor allem einen negativen Sinn als etwas, das
                 man ablehnt. So verwendet T. S. Eliot, den viele als den ›kanonischen Kritiker‹
                 schlechthin betrachten, in seinen eigenen Schriften das Wort auffallend selten.
                 Stattdessen spricht er gewöhnlich von »Tradition« (wie in dem wichtigen Essay
                 Tradition and the Individual Talent). Und wenn er es gebraucht, dann immer
                 in einem negativen Sinn, etwa wenn er etwa Matthew Arnold kritisiert, weil
                 der »die Meister, die er anführt, als kanonische Literatur und nicht als Meister
                 sieht.« 40
                   Die heutige Popularität des Wortes lässt sich zu den sogenannten »Kanon-
                 Kriegen« der 1960er Jahre zurückverfolgen – zu dem Zürcher Literaturstreit
                 von 1966 und dem Münchner Germanistenkongress desselben Jahres sowie zu
                 der berühmt-berüchtigten Tagung der Modern Language Association 1969, als
                 linksradikale Literaturwissenschaftler das Wort hervorholten, um den jeweils
                 traditionellen – aus nationalistischen, religiösen, oder sonst welchen Gründen

                 36   Jan Gorak, The Making of the Modern Canon. Genesis and Crisis of a Literary Idea, London
                    1991, 51; Reallexikon (wie Anm. 27), Bd. 2, 224-227.
                 37   Novalis, Schriften, hg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel, 2. Aufl., Bd. 4, Darmstadt
                    1975, 237.
                 38   Schillers Briefe, hg. v. Fritz Jonas, Bd. 5, Stuttgart 1892, 396.
                 39   In der zweiten der Unzeitgemäß[en] Betrachtungen, in: Werke (wie Anm. 28), Bd. 1, 224.
                 40   Thomas Stearns Eliot, The Sacred Wood (1920), London 1960, XVI, Anm. 1.
   39   40   41   42   43   44   45   46   47   48   49