Page 43 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Zur Politik der Kanonbildung           41

                  Die meisten Literaturhistoriker meinten wie noch 1825 K. H. L. Pölitz: »Die
               lebenden gehören, im strengen Sinne, noch nicht der Geschichte der Sprache
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               an.«  Als August Koberstein 1827 seinen pädagogisch intendierten Grundriß zur
               Geschichte der deutschen National-Litteratur verfasste, begründete er die Weglas-
               sung der letzten dreißig Jahre damit, »daß diese Entwickelungsstufe in dem lit-
               terarischen Leben unserer Nation noch zu sehr in die unmittelbarste Gegenwart
               herübergreift, zu eng mit den Interessen des Tages zusammenhängt und noch zu
               wenig zum Abschluß gekommen ist.«  Dementsprechend widmet er »der neuen
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               Wendung, welche die schöne Litteratur der Deutschen um das Jahr 1795 nahm«,
               nur ein paar Seiten, in denen zwar Jena, aber nicht Weimar genannt wird.
                  Acht Jahre später lässt Gervinus sein fünfbändiges Werk in einer »letzten
               Blütezeit  unserer  Dichtkunst«  kulminieren,  die  vor  und  neben  Goethe  und
               Schiller eine ganze Reihe von Schriftstellern mit einschließt. Und – um ein
               drittes Beispiel zu nennen – Vilmar teilt seine Geschichte der deutschen National-
               Literatur (1845) in drei Perioden ein: die älteste Zeit, die alte Zeit, und die neue
               Zeit, die wiederum mit »einer zweiten klassischen Periode unserer Literatur«
               endet, die mit Klopstock beginnt und mit Goethes Tod geschlossen wird und
               dazwischen neben Lessing, Wieland, Herder und Schiller auch etwa Gleim,
               (Ewald von) Kleist, Anna Luise Karsch unter anderen miteinschließt.  Wie ist
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               es dazu gekommen, daß man gegen Mitte des 19. Jahrhunderts auf einmal von
               einer anscheinend kanonisierten deutschen Klassik sprechen konnte?


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               Die  Rückübertragung  des  theologischen  (bibelgeschichtlichen)  Begriffs  »Ka-
               non« auf weltliche Literatur im Jahr 1768 wird dem Göttinger klassischen Phi-
               lologen David Ruhnken – dem Princeps Criticorum, dem F. A. Wolf seine



               33   Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Das Gesammtgebiet der teutschen Sprache, nach Prosa, Dicht-
                   kunst und Beredsamkeit theoretisch und practisch dargestellt, Bd. 4, Leipzig 1825, 132; zitiert
                   nach Michael S. Batts, A History of Histories of German Literature: Prolegomena, New York
                   1987, 123.
               34   August  Koberstein,  Grundriß  zur  Geschichte  der  deutschen  National-Literatur,  2.  Aufl.,
                   Leipzig 1830, VII.
               35   August Friedrich Christian Vilmar, Geschichte der deutschen National-Litteratur, 16. Aufl.,
                   Marburg; Leipzig 1874, 7-8. Zur spärlichen Schullektüre von Goethe und Schiller in diesen
                   Jahren vgl. Wolfgang Leppmann, Goethe und die Deutschen. Der Nachruhm eines Dichters
                   im Wandel der Zeit und der Weltanschauungen, Bern 1982, 170-73.
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