Page 42 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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40                       Theodore Ziolkowski

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                 Klassik und auf klassisch (auf die Antike bezüglich) zu beschränken.«  Ande-
                 re Kritiker gehen weiter. In Der Wanderer und sein Schatten (1880) leugnete
                 Nietzsche bekanntlich, dass es so etwas wie »deutsche Klassiker« gebe, abgese-
                 hen von Goethe, der »in eine höhere Gattung von Literaturen, als ›National-
                 Literaturen‹« gehöre. 28
                   Die frühen Literaturgeschichten kennen weder eine »deutsche« noch eine
                 »Weimarer« Klassik. Unter dem Begriff »klassisch« verstand man keine mo-
                 dernen Werke, sondern ausschließlich Werke der klassischen Antike. So no-
                 tierte Friedrich Schlegel in seinen Athenaeum-Fragmenten: »Klassisch zu leben,
                 und das Alterthum praktisch in sich zu realisiren, ist der Gipfel und das Ziel
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                 der Philologie.«  Sein Bruder teilte seine populären Berliner Vorlesungen von
                 1802/03 in eine Geschichte der klassischen Literatur und eine Geschichte der ro-
                 mantischen Literatur ein, wobei »klassisch« sich auf die Griechen beschränk-
                 te, während »romantisch« vor allem an »die ehemalige ursprüngliche Einheit
                 Europas«   erinnern  sollte:  germanisches  Mittelalter,  romanische  Romanzen,
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                 provenzalische Troubadour-Dichtung und italienische Poesie der Renaissance.
                 Schlegels »Kurze Übersicht der Geschichte der deutschen Sprache und Poesie«
                 umfasst die Literatur vom Mittelalter bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts und
                 endet dann mit einem Hinweis auf Goethe. In den Vorlesungen zur Geschichte
                 der alten und neuen Literatur, die Friedrich Schlegel 1812 in Wien hielt, ver-
                 suchte er wie zehn Jahre früher sein Bruder »ein Bild Europas als einer geistigen
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                 Einheit« zu schaffen.  So gelten die ersten fünf Vorlesungen der griechischen,
                 römischen und indischen Antike; die nächsten fünf behandeln das europäische
                 Mittelalter; und erst in den beiden letzten (15/16) gelangt er zur deutschen Li-
                 teratur seit der Reformation, wo es in den zwei Seiten über Goethe heißt: »Sein
                 Gefühl zog ihn jederzeit mehr zum Romantischen als zu dem eigentlich Hero-
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                 ischen hin.«  Wir empfinden hier noch keine Spur von Weimarer Klassik.


                 27   Klaus  Weimar  (Hg.),  Reallexikon  der  deutschen  Literaturwissenschaft,  Berlin  1997-2003,
                    Bd. 2, 266.
                 28   Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Bd. 1, München 1954, 927-
                    929.
                 29   Athenaeum, Bd. 1, 1798, 2. Stück, 214.
                 30   August Wilhelm Schlegel, Kritische Schriften und Briefe, hg. v. Edgar Lohner, Bd. 4, Stutt-
                    gart 1965, 36-37.
                 31   Friedrich Schlegel, Geschichte der alten und neuen Literatur, hg. v. Hans Eichner, in: Kritische
                    Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. Ernst Behler, Bd. 6, München 1961, XLVII.
                 32   Ebd., 403.
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