Page 41 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Zur Politik der Kanonbildung           39

               terschieden. Klaus L. Berghahn meint zu Recht, dass »der literar-historische
               Epochenbegriff ›deutsche Klassik‹ zwischen 1835 und 1883 aus [diesem] natio-
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               nalen Wunschdenken« entstand.  Aber wie ist es eigentlich dazu gekommen,
               dass innerhalb dieser als deutsch aufgefassten Nationalliteratur der besondere
               Kanon, den wir heute als Weimarer Klassik bezeichnen, seine Stelle behaupten
               konnte? Denn in den ersten Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts war eine sol-
               che Verbindung alles andere als offensichtlich.



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               Wir brauchen hier auf die oft behandelte Geschichte des Begriffs »Klassizität«,
               eine holprige Substantivierung des Adjektivs »klassisch«, nicht noch einmal ein-
               zugehen.  Jean Paul verwendete sie in seiner Vorschule der Ästhetik (1804), als er
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               zeigen wollte, wie willkürlich damals der Begriff »klassisch« verwendet wurde.
               Im selben Jahr meinte Pölitz in seinem Lehrbuch der teutschen Sprache, dass »nur
               überhaupt das Gesetz der Form – und nicht der Stoff, welcher dargestellt wird,
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               über die Klassicität der Schriftsteller entscheidet.«  Aber bereits in Grimms
               Wörterbuch wurde das Wort als »garstig« empfunden, und es ist langsam außer
               Gebrauch gekommen. Selbst die Bezeichnungen »Klassik« und »klassisch« sind
               im Laufe von zwei Jahrhunderten durch ungenaue Anwendung so verschlif-
               fen, dass die neue Ausgabe des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft
               (2000) empfiehlt: »Zur Vermeidung dubioser Geschichtskonstruktionen, un-
               begründbarer Wertungen und vager, bloss eindruckshafter Stilbeschreibungen
               besteht gegenwärtig die Neigung, den Gebrauch des Begriffsfelds auf Weimarer


               23   Klaus  L.  Berghahn,  Von Weimar  nach Versailles.  Zur  Entstehung  der  Klassik-Legende  im
                   19. Jahrhundert, in: Grimm/Hermand (Hg.), Klassik-Legende (wie Anm. 2), 50-78; hier 75.
               24   Vgl. Heinz Otto Burger (Hg.), Begriffsbestimmung der Klassik und des Klassischen, Darm-
                   stadt 1972; Wilhelm Voßkamp, Klassik als Epoche. Zur Typologie und Funktion der Wei-
                   marer Klassik, in: Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck (Hg.), Epochenschwelle und
                   Epochenbewußtsein, München 1987, 493-314; Gerhard Schulz, Die deutsche Literatur zwi-
                   schen Französischer Revolution und Restauration, Bd. 1, München 1983, 59-69; Borchmeyer,
                   Weimarer Klassik (wie Anm. 1), 13-40.
               25   Jean Paul, Werke, hg. v. Norbert Miller, München 1962, Bd.5, 353 (3. Abt., 1. Vorlesung, Kap.
                   4).
               26   Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Lehrbuch der teutschen Sprache in ihrem ganzen Umfange und
                   nach ihrer gegenwärtigen Gestalt; besonders für den Vortrag derselben auf Universitäten und
                   Lyceen geschrieben, 2. Ausg., Leipzig 1810, 50-52.
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