Page 40 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
P. 40

38                       Theodore Ziolkowski

                 Jahrhunderts, die er aber als eine Reihe von Einzelwerken und noch nicht im
                 Sinn von Arnim oder Görres als national-patriotisches Phänomen sieht: »Die
                 ästhetische Bildung der Deutschen ist überhaupt nur individuell, und keines-
                 wegs national und es ist gerade die Aufgabe des Literarhistorikers, sie in dieser
                                            18
                 ihrer wahren Gestalt darzulegen.«  Aber nach dem Sieg der Alliierten bei Wa-
                 terloo betonte derselbe Horn in seinen Umrissen zur Geschichte und Kritik der
                 schönen Literatur Deutschlands während der Jahre 1790 bis 1818 (1819) den
                 soziopolitischen Hintergrund der Literatur und bemerkt, dass der Krieg von
                 1813–15 den unerwünschten »Kosmopolitismus« der deutschen Literatur be-
                 endet und die Schriftsteller zu ihrer wahren Quelle zurückgeführt habe. »Ein
                                                                               19
                 Dichter ohne Vaterland wäre auch ein Dichter ohne Poesie, das heißt: keiner.«
                 J. F. L. Wachler steigerte das einfach Patriotische zum Nationalen in seinem
                 Versuch einer allgemeinen Geschichte der teutschen Nationalliteratur (1818–19):
                 »Es kam darauf an, die Richtung und Veränderungen des Zeit- und Volksgeistes
                 bemerklich werden zu lassen und die auffallendsten Erscheinungen desselben
                                                                               20
                 in Kunstwerken der Sprache für die genauere Betrachtung hervorzuheben.«
                 Diese neue Einstellung führte in diesen Jahrzehnten zur Gründung von immer
                 mehr Professuren an deutschen Universitäten.
                   Es hat keinen Sinn, weitere Beispiele der deutschen National-Literaturge-
                                                                    21
                 schichten zu erwähnen, die sich von jetzt an dringend häufen.  Es sieht fast
                 wie eine Reaktion auf Kobersteins Grundriß zur Geschichte der deutschen Natio-
                 nalliteratur (1827) aus, als Goethe es im selben Jahr für nötig hielt, vor solchen
                 Projekten zu warnen. »Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen«, sagte er am
                 31. Januar 1827 zu Eckermann; »die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit,
                 und jeder muss jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.« 22
                   Wir haben gesehen, wie das neue historische Bewusstsein zusammen mit
                 dem patriotischen Wunsch, nach den Erniedrigungen des Kriegs den Volks-
                 geist zu vereinigen und zu erheben, zum ersten Mal in Deutschland zunächst
                 deutsche und dann bald nationale Literaturgeschichten hervorbrachte: Werke,
                 die sich einerseits von der europäischen Romantikvorstellung der Schlegels und
                 andererseits von des alten Goethe Vorstellung einer Weltliteratur deutlich un-

                 18   Franz Christoph Horn, Die schöne Literatur Deutschlands während des achtzehnten Jahrhun-
                    derts, Berlin 1812–13, V; zitiert nach Batts (wie Anm. 7), 107.
                 19   Zitiert nach Batts (wie Anm. 7), 108.
                 20   Zitiert nach Batts (wie Anm. 7), 115.
                 21   Becker, ›Klassiker‹ (wie Anm. 6), 358-359.
                 22   Allerdings war Goethe nicht der erste, der den Begriff »Weltliteratur« verwendete. Vgl.
                    Hans-Joachim Weitz, ›Weltliteratur‹  zuerst bei Wieland, in: Arcadia 22 (1987), 206-208.
   35   36   37   38   39   40   41   42   43   44   45