Page 39 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Zur Politik der Kanonbildung           37

                  Nach der deprimierenden Niederlage bei Jena-Auerstedt suchten viele Men-
               schen in den deutschen Ländern nach Gründen eines nationalen Bewusstseins
               und Stolzes – Gründen, die einige in den älteren Zeugnissen deutscher Dich-
               tung zu finden meinten. »Die eigentliche Geschichte war mir damals«, erklärte
               Arnim über die Geburt des Wunderhorns »unter der trübseligen Last, die auf
               Deutschland ruhte, ein Gegenstand des Abscheus, ich suchte sie bei der Poesie
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               zu vergessen.«  Im gleichen Sinn schrieb Joseph Görres seine Abhandlung Die
               teutschen Volksbücher (1807), um dem deutschen Volk eine Quelle zu besche-
               ren, aus der es nach der »Demüthigung« des Krieges seinen »Idealcharakter«
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               und »ächten innern Geist« wieder schöpfen konnte.  Diese Auffassung von
               »Nation« ist aber von der »Nation« noch weit entfernt, die Goethe, Sulzer und
               andere Kritiker des späten 18. Jahrhunderts im Sinn hatten, als sie von den
               Dichtern der klassischen Antike schrieben, die nur aus Nationen mit einem
               hohem Grad von Kultur hervorgehen konnten. 15
                  Als Ergebnis des neuen historischen Sinnes begannen verschiedene Werke
               zur deutschen Literatur zu erscheinen. Die meisten Poetiken des 18. Jahrhun-
               derts hatten noch zum Typus der historia literaria gehört: das heisst, »Nichts
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               anderes als eine Beschreibung derer Schriften und Bücher der Gelehrten«  –
               meistens nach dem Muster von Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst
               nach Gattungen geordnet. Dazu gehören etwa Adelungs Umständliches Lehrge-
               bäude der deutschen Sprache (1782), J. F. L. Wachlers Handbuch der allgemeinen
               Geschichte der literarischen Cultur (1804–05), und Johann Gottfried Eichhorns
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               Allgemeine Geschichte der Cultur und Litteratur des neueren Europa (1796-99).
               Noch um die Jahrhundertwende befassten sich die Brüder Schlegel in ihren öf-
               fentlichen Vorträgen zur Literaturgeschichte nur flüchtig mit deutschen Poeten
               als Teil einer europäischen romantischen Dichtung.
                  Aber nach 1806 und vor allem nach 1815 hört man einen neuen Ton. In
               seinem Werk Die schöne Literatur Deutschlands während des achtzehnten Jahr-
               hunderts (1812–13) diskutiert Franz Christoph Horn die Poesie des vorigen


               13   Zweite Nachschrift an den Leser (1818), in: Des Knaben Wunderhorn. Vollständige Ausgabe
                   nach dem Text der Erstausgabe von 1806/1808, hg. v. Willi A. Koch, Darmstadt 1957, 893.
               14   Joseph Görres, Gesammelte Schriften, hg. v. Wilhelm Schellberg, Köln 1926, Bd. 3, 175.
               15   Klaus  Manger,  ›Klassik‹  als  nationale  Normierung,  in:  Dieter  Langewiesche  und  Georg
                   Schmidt (Hg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten
                   Weltkrieg, München 2000, 265-291, besonders 266-274.
               16   Nicolaus Hieronymus Gundling, Collegium historico-literarium, Bremen 1738-42, 490; zi-
                   tiert nach Batts, History (wie Anm. 7), 44.
               17   Batts (wie Anm. 7), 83-100.
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