Page 38 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                 instruktiv gemäß dem ciceronischen Wort: historia magistra vitae. Abgesehen
                 von  dem  Ausnahmefall  Göttingen  gab  es  an  deutschen  Universitäten  keine
                 Lehrstühle für Historie, die höchstens als propädeutisches Fach für Theologie
                 und Juristerei diente. 11
                   Dass sich diese Situation bis 1810 radikal geändert hatte, zeigt das Beispiel
                 der neugegründeten Universität zu Berlin, wo sämtliche Fächer eine deutliche
                 Historisierung bezeugten. Die populärsten Veranstaltungen im ersten Seme-
                 ster waren bei weitem die neuartigen Vorlesungen zur Römischen Geschichte,
                 die Barthold Georg Niebuhr vor einem begeisterten Publikum von Studenten,
                 Bürgern und Hofbeamten hielt. Friedrich Karl von Savigny trug seine Ideen zur
                 Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter vor und gründete 1815 die
                 Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft. In seiner Einleitung zum theolo-
                 gischen Studium lehrte Friedrich Schleiermacher seine Hörer, dass die histori-
                                                                               12
                 sche Theologie »den eigentlichen Körper des theologischen Studiums« bildet.
                 Und 1809 gründete Friedrich von der Hagen, außerordentlicher Professor für
                 deutsche Sprache und Literatur, die erste germanistische Zeitschrift: Museum
                 für Altdeutsche Literatur und Kunst.
                   Es lassen sich für diese bekannte Wende mindestens drei Gründe erkennen.
                 Die Französische Revolution und deren Folgen erschütterten die politischen
                 Fundamente Europas und zwangen denkende Menschen, die Voraussetzungen
                 und Prioritäten, die das vorhergehende Jahrhundert dominiert hatten, einer
                 kritischen Prüfung zu unterziehen. Die Industrielle Revolution verursachte zu-
                 nächst in Berlin eine Reihe von Transformationen – Industrialisierung, Urbani-
                 sierung, Kommerzialisierung –, die die bestehende Gesellschaft unterminierten
                 und eine neue soziale Mobilität hervorbrachten. Die durch Kant eingeleitete
                 Epistemologische Revolution ließ die gewohnten Bedeutungssysteme auseinan-
                 derfallen, indem sie die philosophische Aufmerksamkeit von der äußeren Rea-
                 lität in das menschliche Bewusstsein mit seinen Kategorien verlegte. Diese drei
                 Revolutionen, die durch den Schock der napoleonischen Kriege und der Auf-
                 lösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation intensiviert wurden,
                 zeitigten politisch, gesellschaftlich und geistig eine klaffende Diskontinuität in
                 der Episteme der abendländischen Kultur und forderten ein neues Verständnis
                 der historischen Faktoren, die sie hervorgebracht hatten.

                 11   Theodore Ziolkowski, Clio the Romantic Muse. Historicizing the Faculties in Germany, Ithaca
                    (New York) 2004.
                 12   Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleiten-
                    der Vorlesungen, hg. v. Heinrich Scholz, Leipzig 1910, 11-12.
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