Page 37 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Zur Politik der Kanonbildung           35

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               Geschichte der poetischen National-Literatur (1835) beginnt,  als Ende anstatt als
               Anfangspunkt betrachten.


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               Bereits Goethe hatte in seinem Aufsatz Literarischer Sansculottismus (1796) be-
               hauptet, dass man »einen vortrefflichen Nationalschriftsteller nur von der Na-
               tion fordern kann« , fügte aber gleich hinzu, dass es in Deutschland vorläufig
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               nicht so weit sei. Heute wird gemeinhin akzeptiert, »daß für die Historiographie
               des 19. Jahrhunderts die Idee des Nationalstaates [eine] sinnstiftende Position
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               besetzt hat.«  Aber was sind eigentlich die Voraussetzungen? Denn dazu gehört
               zunächst der Wille, die Geschichte der eigenen Nation zu schreiben. Aber solch
               ein  Wille  setzt  wiederum  zweierlei  voraus:  erstens  das  Vorhandensein  eines
               historischen Sinns, d. h. der Wille, überhaupt Geschichte zu schreiben; und
               zweitens ein nationales Bewusstsein, will sagen: der Wille die Geschichte der
               eigenen Nation zu schreiben – Phänomene, die erst am Anfang des 19. Jahr-
               hunderts deutlich zu beobachten sind.
                  Ein Sinn für Geschichte, den wir als modern anerkennen können, beginnt
               sich um 1800 herauszukristallisieren, in der sogenannten Sattelzeit oder Epo-
               chenschwelle, die in Europa eine neue episteme oder epistemologisches Bewusst-
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               sein hervorgebracht hat.  Vorher war die Historie entweder nach Melanchthon
               rhetorisch dekorativ – omnium humanorum officiorum exemplum – oder ethisch
               7   Michael S. Batts, A History of Histories of German Literature, 1835–1914, Montreal 1993.
                   Vgl. auch Peter Uwe Hohendahl, Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus, 1830–
                   1870,  München 1985.
               8   Goethes Werke, hg. v. Erich Trunz, Bd. 12, Hamburg 1956, 241.
               9   Cornelia Blasberg, Literaturgeschichte am Ende – kein Grund zu trauern? in: Walter Erhart
                   (Hg.),  Grenzen  der  Germanistik.  Rephilologisierung  oder  Erweiterung,  Stuttgart;  Weimar
                   2004, 467-481; hier 477. Vgl. auch Conrad Wiedemann, Deutsche Klassik und nationale
                   Identität. Eine Revision der Sonderwegs-Frage, in: Wilhelm Voßkamp (Hg.), Klassik im Ver-
                   gleich. Normativität und Historizität, Stuttgart 1993, 541-569: »[…] daß erst die Literarhis-
                   toriker des mittleren neunzehnten Jahrhunderts die Genie-Periode des späten achtzehnten
                   Jahrhunderts zu einem patriotischen Mythos und zu einer Institution der nationalstaatli-
                   chen Identitätsfindung gemacht und in diesem Zusammenhang auch den Begriff ›Deut-
                   sche Klassik‹ geprägt haben« (542).
               10   Vgl. Reinhart Koselleck, (Artikel) Geschichte, Historie in: Geschichtliche Grundbegriffe. His-
                   torisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1979, 593-
                   717; Michel Foucault, The Order of Things. An Archaeology of the Human Sciences, New
                   York 1994, Part 2.
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