Page 36 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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                 tigen Romantik im benachbarten Jena klar abgegrenzt werden. Dabei wurde
                 Weimar aus dem von Goethe erwünschten »Heiligen Dunckel« ins grelle Licht
                 der Öffentlichkeit gerissen. 4
                   Wie ist es dazu gekommen? In seiner Kleinen Geschichte der deutschen Li-
                 teratur (2002) meint Heinz Schlaffer, dass es im neuen 21. Jahrhundert das
                 Deutsche nicht mehr gebe, »denn die Vorstellung von Nationalcharakteren ist
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                 nur ein Klischee.«  Deswegen seien »unter Deutschen, die dem Anspruch auf
                 moralische und politische Integrität genügen wollen, [...] Liebeserklärungen
                 an die deutsche Kultur undenkbar, mindestens unaussprechlich.« Es handelt
                 sich also bei der Einführung des Begriffs Weimarer Klassik nicht so sehr um
                 eine Präzisierung des Phänomens selbst, das ja seit zwei Jahrhunderten konstant
                 geblieben ist, wie um die neue und entpolitisierte – oder jedenfalls anders ideo-
                 logisierte – Perspektive des Beobachters.
                   Die Formulierung ›deutsche Klassik‹ hat wiederum ihre eigene Geschichte.
                 Die Verbindung tauchte vermutlich zum ersten Mal 1839 bei Heinrich Laube
                 auf, der in seiner Geschichte der deutschen Literatur einen Hauptteil »Das Klassisch-
                 Deutsche«  betitelte. Aber die Verbindung, die wir heute als normal akzeptieren,
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                 ist insofern problematisch, als sie zwei Elemente voraussetzt, die es am Anfang des
                 19. Jahrhunderts noch nicht gegeben hat: die Auffassung einer Nationalliteratur
                 und eine »Klassik«, die darin ihren Platz beanspruchen könnte.
                   Anstatt  also  der  Vergangenheit  die  manchmal  verworrenen  Begriffe  der
                 Gegenwart aufzuoktroyieren, wollen wir die Frage anders formulieren: Durch
                 welchen Prozess ist in Deutschland der Sinn entstanden, der überhaupt erst die
                 Frage nach einer »klassischen« Epoche der deutschen Literatur ermöglichte? Zu
                 diesem Zweck wollen wir die Literaturgeschichtsschreibung, die mit Gervinus’

                 4   Wielands Brief vom 24. März 1777 an Jacobi, in: Wielands Briefwechsel, hg. v. Hans Wer-
                    ner Seiffert, Bd. 5, Berlin 1983, 601. Für diesen Hinweis bin ich Klaus Manger verpflich-
                    tet: Das Ereignis Weimar-Jena um 1800 aus literaturwissenschaftlicher Sicht, Sitzungsberichte
                    der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse,
                    Bd. 139, Heft 5, 3. Der 1998 an der Universität Jena gegründete Sonderforschungsbereich
                    »Das Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800« zeigt übrigens, dass viele Literaturwissen-
                    schaftler mit dieser Engführung nicht zufrieden sind.
                 5   Heinz Schlaffer, Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München 2002, 7. Allerdings
                    wurde noch 2006 von Alwin Binder ein Unterrichtsmodell zur Deutschen Klassik, Frankfurt
                    am Main, veröffentlicht, wobei neben Goethe und Schiller auch Kant, Hobbes, Adam
                    Smith und Rousseau eine Rolle spielen.
                 6   Eva D. Becker, ›Klassiker‹ in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zwischen 1780 und
                    1860, in: Jost Hermand und Manfred Windfuhr (Hg.), Zur Literatur der Restaurationsepo-
                    che, 1815–1848, Stuttgart 1970, 349-370; hier 360.
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