Page 35 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Zur Politik der Kanonbildung           33

                                     Theodore Ziolkowski

                               Zur Politik der Kanonbildung


                     Prolegomena zum Begriff einer ›Klassik‹ in Deutschland



                                              1.

               Mit Wörtern und Begriffen lässt sich oft belustigend und manchmal sogar auf-
               schlussreich spielen. Betätigt man etwa die Internet-Suchmachine Google, so er-
               gießen sich sofort fast 1.500 Einträge für »Weimarer Klassik« im Vergleich zu
               knapp  250  für  »deutsche  Klassik«.  Die  elektronische  Enzyklopädie  Wikipedia
               enthält nurmehr die Rubrik Weimarer Klassik. Dieses Ergebnis ist insofern in-
               teressant, als die Popularität des Begriffs ›Weimarer Klassik‹ erst neueren Datums
               ist – seit etwa Dieter Borchmeyers knapper »Einführung« von 1980 und seinem
               erweiterten »Portrait einer Epoche« von 1994.  Während mehr als eines Jahrhun-
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               derts vorher hatte in den Literaturgeschichten die Bezeichnung »deutsche Klas-
               sik« vorgeherrscht. Der Wendepunkt lässt sich vielleicht von der von Reinhold
               Grimm und Jost Hermand veranstalteten Konferenz zur Klassik-Legende (1970)
               datieren, wo die Teilnehmer wegen der Ausweitungstendenzen des Begriffs vor-
               schlugen, die Bezeichnung deutsche Klassik aufzugeben, um sie fernerhin enger,
               konkreter und historischer auf die Zeit zwischen 1795 und 1806 als »Weimarer
               Hochklassik« oder besser »Weimarer Hofklassik« zu beschränken. 2
                   Mit dem Begriff Weimarer Klassik, erklärt Borchmeyer, wollte man das
               Modell durch Historisierung und Lokalisierung von der nationalen Ideologie
               des 19. Jahrhunderts ablösen.  Die Zeitspanne der längeren »deutschen Klas-
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               sik« (von etwa 1756 bis zu Goethes Tod im Jahr 1832) wurde auf die kürzere
               Periode von Goethes Italienischer Reise 1786 oder sogar von der Begegnung
               Goethes mit Schiller 1794 bis zu Schillers Tod im Jahr 1805 zusammengerafft.
               So konnte »Klassik« von der vorhergehenden Aufklärung sowie der gleichzei-

               1    Dieter Borchmeyer, Die Weimarer Klassik. Eine Einführung, Königstein im Taunus 1980;
                   und ders., Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche, Weinheim 1994.
               2   Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hg.), Die Klassik-Legende, Frankfurt am Main 1971,
                   10. Vgl. dazu Klaus L. Berghahn, Das Andere der Klassik. Von der ›Klassik-Legende‹ zur
                   jüngsten Klassik-Diskussion, in: Goethe Yearbook 6 (1992), 1-27.
               3   Borchmeyer, Weimarer Klassik (wie Anm. 1), 39.
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